Fotoausstellung in Berlin: Vom Zusammenflicken einer Stadt
Als die Möglichkeitsräume wuchsen und die Bauzäune auch: Das Haus am Kleistpark präsentiert den Blick dreier Fotograf:innen auf Berlin der 90er Jahre.

Wenn es ruhig war in der Stadt, die Straßen leer am Sonntagmorgen, kaum Autos, keine Fußgänger, dann war für die Fotografen André Kirchner und Peter Thieme die Zeit gekommen, unterwegs zu sein. Mit ihren Großformatkameras zogen sie los in den 1990er Jahren, angezogen vom Umbau der Stadt, von Brachen und Brandmauern, von der feinen Gliederung alter Fassaden und der Anonymität in den Fensterrastern neu hochschießender Gebäude.
Die Fotografin Nelly Rau-Häring, die aus der Schweiz nach Berlin gekommen war und hier vier Jahrzehnte lang fotografierte, liebte den Trubel. Wo Leute zusammenkamen, auf Demos, Paraden, Volksfesten fand sie viele ihrer Motive.
Alle drei haben die Veränderungen der Stadt lange begleitet. Ihre gemeinsame Ausstellung im Berliner Haus am Kleistpark konzentriert sich jetzt auf die Neunzigerjahre, die Flickstellen zwischen Ost und West, auf die Versprechen von neuen Gestaltungsmöglichkeiten und die Hartnäckigkeit des Alten. Der Mief der Nachkriegszeit und der raue Charme der Selbstbehauptung auf beiden Seiten der Mauer, er war ja immer präsent.
Wer damals schon in Berlin lebte, für den ist die Ausstellung auch ein Fest des Wiedererkennens und Erinnerns. Wer erst später kam, kann vielleicht staunen, wie oft es den Fotografen gelang, im Grauen und Monotonen, an Orten, die nichts Einladendes hatten, um zu verweilen, die ohne Identität und Seele schienen, doch etwas zu entdecken, was die Orte zum Sprechen bringt in ihrer Schwarz-Weiß-Fotografie.
Ecken der Stadt über die Jahre
André Kirchner arbeitet in Serien, nicht selten hat er Straßen und Straßenecken über viele Jahrzehnte verfolgt. In der Serie „Offener Himmel“ liegt der Blickpunkt oft tief, gleitet über Pflaster und betonierte Flächen, bis er auf Gewerbebauten oder Siedlungen trifft, die klein unter dem konturlosen hellen Himmel wirken.
„Berlin Eins – die Neunziger“, Haus am Kleistpark, Di. – So., 11–18 Uhr, bis 28. September
Was Stadt ist, driftet weg vom Betrachter, wird zur Randerscheinung, ist nicht mehr das Maß aller Dinge. In einer anderen, hochformatigen Bilderreihe ist der Abstand zu den Fassaden gering, sie verstellen den Blick, erzeugen Enge. Man prallt zurück, bis man in den Details zu lesen beginnt, dem abgestellten Wohnwagen in der Baulücke, den feinen Musterungen in der Backsteinarchitektur historischer Industriebauten, oder den Beschriftungen, die unter bröselnden Fassaden von besseren Zeiten erzählen.
Die Mauer war weg, aber jede Menge Bauzaun macht Berlin zu einem unwirtlichen Ort in den Aufnahmen von Peter Thieme. Der Blick geht oft in die Tiefe durch die Straßenschluchten, aber man wird schon beim Hinsehen müde bei der Vorstellung, jetzt an all diesen Ost-Neubauten, Modell historisierende Platte, durch die Friedrichstraße zu laufen. Er zeigt Berlins Mitte wie erstarrt, eine Stadt in Schockstarre.
Dieser städtebaulichen Tristesse gegenüber hat die Fotografin Nelly Rau-Häring leichtes Spiel, mit ihrem den Menschen zugewandten Blick die Sympathien zu gewinnen. Ganz nebenbei sieht man den von Christo und Jeanne-Claude verhüllten Reichstag im Hintergrund, aber eigentlich flirtet man mit einem kleinen Jungen, den sein Vater auf dem Arm hält.
Was passiert, ist bühnenreif
Über einen Hügel aus Erde, Aushub aus einer Grube womöglich, balancieren drei Silhouetten, während hinter ihnen die ersten Hochhäuser des Potsdamer Platzes aufragen. In der Volksbühne am Rosa Luxemburg Platz wird die Bühne gefegt. Am Funkturm treffen sich die Fans amerikanischer Schlitten. Es sind einerseits ikonische Orte, touristische Highlights, Kapital des Stadtmarketings, die Rau-Häring mit ihrer Kleinbildkamera aufsuchte.
Aber sie verlieren jeglichen werbenden und auftrumpfenden Gestus in den Szenen, die sie beobachtet, auf die sie gewartet hat. Was passiert, ist oft bühnenreif, aber nicht von ihr, sondern von den Protagonisten inszeniert, manchmal etwas schrullig, oft tapfer den Verhältnissen trotzend. Wie der Verkäufer von Regenschirmen, der seinen Handel aus einem kleinen Koffer vor dem Bauzaun betreibt, hinter sich ein Plakat „Tanz in die D:Mark“.
Ein wenig komisch ist es schon, dass die drei Künstler:innen einer klassischen Rollenaufteilung folgen: Die Männer sind für die Hardware der Stadt, Stein und Beton, das Monumentale und Große zuständig und die Frau für das Leben, das Kleinteilige und Wuselige. Aber was sie eint, ist eine Haltung, die nichts verurteilt und nichts verkaufen will, die genügsam mit dem umgeht, was Berlin ausmacht. Und nichts, aber auch gar nichts beschönigt.
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