: Linderung per Post
In 60 bis 90 Minuten zum ersten Zug: Der Online-Handel mit medizinischem Cannabis boomt. Per E-Rezept wird der Kunde unkompliziert zum Patienten
Von Ansgar Warner
Leiden Sie unter Migräne? Schlafstörungen? Angst vor der Inflation? Vielleicht auch Menstruationsbeschwerden? Dagegen ist ein Kraut gewachsen. Das Internet hilft – mit Medizinalhanf. „Schnell, einfach & sicher zur passenden Cannabis-Therapie“, verspricht ein Anbieter mit angeschlossenem Webshop. „Werde Cannabis-PatientIn in drei Minuten, ohne Registrierung“, posaunt ein Mitbewerber. „Medizinal-Cannabis in 60 bis 90 Minuten geliefert“, setzt ein weiteres Portal noch einen drauf.
Möglich macht das nicht nur die Legalisierungspolitik der Merkel-Ära, sondern auch ein zusätzlicher Freisetzungs-Kick der seeligen Ampel: Cannabis wurde 2024 parallel zur Einführung des E-Rezeptes aus der Liste der Betäubungsmittel herausgenommen. Es kann ganz regulär vom Arzt verschrieben werden.
Das wirkt. Wer auf Plattformen wie Grünhorn, CanDoc oder Quick-Green einen Fragebogen ausfüllt und eine Personalausweis-Kopie hochlädt, wird prompt beliefert. Approbierte Ärzte stellen im Hintergrund ein elektronisches Rezept aus, das direkt an eine Versandapotheke geht. Schon ist die Lieferung auf dem Weg zum Kunden.
Im Fragebogen geht es um körperliche und psychische Gesundheit, aktuellen Medikamentengebrauch sowie die Vorerfahrungen mit Cannabis. Theoretisch könnte man den Arzt noch per Video-Call zu Gesicht bekommen. Nötig ist das aber nicht.
Die duftenden Blüten mit Namen wie Jet Fuel Gelato, Sunset Strudel oder Lemon Cookies kosten etwa zehn Euro pro Gramm. Der kommerzielle Absatz mit der angeblich therapeutischen Rauchware brummt. Alleine im ersten Quartal 2025 wurden der Bundesopiumstelle zufolge 37.000 Tonnen Cannabisblüten importiert, was einem Handelswert von mehr als 300 Millionen Euro entspricht.
Auch über die Kundschaft sind die Betäubungsmittel-Experten dank der Auswertung von Rezeptdaten gut informiert: überwiegend Männer unter 40 Jahren, die sich die Kosten nicht von ihrer Krankenkasse erstatten lassen. Also wohl kaum moribunde Schmerzpatienten, sondern schlicht clevere Kiffer.
Ärztekammern wie die aus NRW sprechen pikiert von „unvorhergesehen Effekten der Teillegalisierung“. Es könne nicht im Sinne des Gesetzgebers sein, dass „Medizinal-Cannabis ungeregelt über Online-Plattformen in großen Mengen zu Genusszwecken bestellt werden kann“.
Die Deutsche Pharmazeutische Gesellschaft warnt vor dem schwankenden, teilweise sehr hohen THC-Gehalt der Import-Gewächse. Das drohe selbst gewohnheitsmäßige Nutzer in die Psychose zu treiben.
Selbst beim Deutschen Hanfverband hofft man, dass der Medizinalhanf-Boom abflacht, sobald die Bemühungen der Anbauvereine Früchte tragen.
Einstweilen jedoch muss die Republik mit dem drogenpolitischen Eigentor leben. Nur Anbau, Besitz und Konsum wurden legalisiert, der lizensierte freie Verkauf eben nicht. Mangels lizensierter Abgabeorte hat sich der Markt seinen eigenen Weg gesucht, und in der Kombination aus freier Verschreibbarkeit und E-Rezept auch gefunden. Sprich: Wer Coffee-Shops ausbremst, aber zugleich THC-Telemedizin sät, wird Telekiffer ernten.
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