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Archiv-Artikel

Einmal im Leben beklatscht werden

Der Mädchentreff Rabia in der Wrangelstraße ist ein Hafen für viele Teenager im Kiez. Hier gibt es Hausaufgabenhilfe, Rapp-Unterricht und Gespräche über Sex. Jetzt ist Karneval-der-Kulturen-Zeit. Für viele Mädchen ist das Spektakel am Pfingstsonntag die Chance, einmal im Mittelpunkt zu stehen

VON WALTRAUD SCHWAB

Bei Rabia tobt das Leben. „Zickenalarm, wa?“, fragt die 13-jährige Gülsüm. Sie tut selbst einiges dafür, dass es stimmt. Nachdem sie die Rosen, die auf dem Tisch standen, zerrupft hat, lümmelt sie sich in Pose und raucht eine Luftzigarette. Die Haltung beherrscht sie perfekt.

Dann fordert sie ein deutsches Mädchen auf: „Sag amcik, sag sik, sag dasak.“ Sie kringelt sich vor Lachen bei der Vorstellung, dass die Wörter nachgesprochen werden. „Hast sie wohl nicht alle“, sagt das deutsche Mädchen. Eine Jüngere kommt angelaufen: „Was hat sie gesagt, was du sagen sollst?“ „Amcik.“ „Das heißt Muschi“, klärt sie auf. „Weiß ich doch.“ Im Kreuzberger Mädchentreff Rabia in der Wrangelstraße ist der Teufel los.

Während Severine Buchweiller mit einer Hand voll Mädchen an den Kostümen für den Karneval der Kulturen näht, sitzt Gülsüm mit ihren zwei Freundinnen Nazar und Dilek – die Namen haben sie sich just in dem Augenblick ausgesucht – am Tisch. Die drei machen Hausaufgaben. „Ich versuche alles, um in der Schule besser zu werden, aber ich schaff es nicht“, sagt Gülsüm.

Heute tun sich alle drei schwer, denn dauernd schweifen ihre Gedanken ab in mehr sexuelle Gefilde. Sie versuchen den Aufklärungsunterricht zu verdauen, den sie derzeit in der Schule haben. „Sex, bevor man verheiratet ist, ist haram“, sagt Dilek. Haram – verboten, unrein, nicht mit dem Islam vereinbar. Es schwebt wie ein Damoklesschwert über ihren Köpfen. Sie möchten unbedingt mit Erwachsenen darüber reden. Gülsüm, die vorher die Rosen zerpflückte, würde es am liebsten genau wissen. Deshalb sik und dasak, Penis und Hodensack. Zickenalarm eben.

Auch hinten in der Sofaecke wird gekreischt. Die Schlesi-Girls haben ihre übermütige Phase. Kitzeln sich, bis das Geschrei alle Aufmerksamkeit im Raum auf sich zieht, dann springen sie auf, rappen ein bisschen, klopfen sich rhythmisch auf die Schenkel, drehen sich auf dem Fußballen im Kreis.

Die vier sind die Idole der Jüngeren. Sie haben sich auf der Straße kennen gelernt. Dass ihnen vor zwei Jahren plötzlich Rabia die Türen öffnete, war ein großes Glück in ihrem Leben. In dem Mädchentreff in der Wrangelstraße wurden sie endlich ernst genommen.

Letztes Jahr waren sie die Stars auf dem Wagen, der beim Karneval der Kulturen mitfuhr. Sogar im Radio waren sie, hatten sie doch zuvor mit der Musikerin Karin Benda eine CD mit drei Songs aufgenommen. „Den Mädchen am Wegrand des Umzugs ist der Mund offen stehen geblieben, als sie unseren Wagen sahen“, meint Ulrike Pyplatz, die Leiterin des Zentrums. „Dass Mädchen, sichtbar mit Migrantenhintergrund, so selbstbewusst sind, das macht auch anderen Mut.“

Dieses Jahr allerdings wollen die Schlesi-Girls nicht auf dem Rabia-Wagen mitfahren. Zwei der vier haben an Pfingsten Geburtstag. Endlich werden sie volljährig. Das wollen die Mädchen feiern.

Rabia gibt es seit 1998. Letztes Jahr im Oktober konnte der Mädchentreff endlich den fertig umgebauten Pferdestall in einem Hinterhof in der Wrangelstraße komplett nutzen. Es ist ein echter Hafen für die Teenager. Zwischen 10 und 16 seien die meisten, die kämen. Ungefähr 50 Mädchen tummeln sich hier jeden Nachmittag.

Im offenen Treff mit seinen hellen, großen Fenstern zum Hof gibt es nicht nur gegen minimales Entgelt ein warmes Essen, hier werden sie auch bei den Hausaufgaben unterstützt. „Nicht zu unterschätzen ist das. Hausaufgabenhilfe ist ein Türöffner. Mitunter auch sehr streng gehaltene Mädchen dürfen dafür das Haus verlassen“, sagt Pyplatz.

Dazu gibt es jede Menge Projekte und Programme. Von Handwerk über Sport, Musik bis zu Computerkursen. Um das alles bewältigen zu können, kooperiert Rabia mit den umliegenden Projekten im Kiez. Denn wie bei vielen Jugendprojekten ist die Finanzierung prekär. Um Honorare für den Musik-, Tanz- oder Computerunterricht anbieten zu können, ist der Verein auf Sponsoring angewiesen. Einige Kursleiterinnen arbeiten auch ehrenamtlich.

Im Moment ist Karneval-der-Kulturen-Zeit. Jede der zehn Teilnehmerinnen hat dafür ihr eigenes Kostüm entworfen. Zwischen Prinzessin, Vamp und der Personifikation des Feuers ist alles möglich. Nur bei den Farben haben sie sich geeinigt: Weiß, Rot und Schwarz kommen vor. Warum sie mitmachen? Weil es schön sei, zu tanzen, sich zu zeigen, einmal im Mittelpunkt zu stehen.

Gülsüm und ihre Freundinnen sind nicht dabei. Bisher galten die drei eher als scheu und zurückhaltend. Keine Teenies, die sich in Szene setzen. Vor kurzem allerdings haben sie in einem Film mitgemacht. „Serbets großter Wunsch“ heißt er und lief im Offenen Kanal. Darin wurden die Sehnsüchte von Mädchen mit und ohne Kopftuch miteinander verglichen. Heraus kam, dass sie die gleichen Träume haben.

Dass Gülsüm, Nazar und Dilek das Zeug zu Schauspielerinnen haben, hat alle überrascht. Jetzt sind sie die neuen Stars bei Rabia. „Klassisch gesehen haben viele der Mädchen keine Chance auf ein selbstbestimmtes Leben“, sagt Pyplatz. „Was wir aber machen können: ihre Talente unterstützen, in der Hoffnung, dass sie darüber Selbstbewusstsein entwickeln.“