: Churchills Worte von 1945 als Mahnung für 2025
Großbritannien feiert den 80. Jahrestag der Kapitulation Deutschlands im Zweiten Weltkrieg mit einer Mischung aus Rückblick, Introspektion und globalen Zukunftssorgen

Von Dominic Johnson
Der jüngste beteiligte Weltkriegsveteran war 99 Jahre alt, den Befehl zum Abmarsch gab ein 100-Jähriger. Die Militärparade im Herzen Londons, die am Montag die britischen Gedenkfeiern zum 80. Jahrestag der Kapitulation Nazideutschlands am 8. Mai 1945 einläutete, war wohl die letzte in Großbritannien mit direkter personeller Kontinuität zum Zweiten Weltkrieg. Umso mehr steht in dieser britischen Gedenkwoche auch politische Kontinuität im Vordergrund.
Ausgelaugt und erschöpft waren die Briten im Mai 1945, als Deutschland endlich besiegt war. Sie hatten in Europa 1940–41 völlig allein dem deutschen Angriffskrieg standgehalten, als Frankreich gefallen, die Sowjetunion noch mit Hitler verbündet und die USA neutral waren. Sie boten flüchtigen Hitler-Gegnern Schutz, von der polnischen Exilregierung über Charles de Gaulle bis zu den jüdischen Kindertransporten aus Deutschland. Sie kämpften in Afrika und Asien gegen Italiens und Japans imperiale Expansion und den Verlust der globalen Seewege. Sie eröffneten 1944 die Westfront in der Normandie, die Deutschland den Zweifrontenkrieg aufzwang und damit in die sichere Niederlage führte. Sie steckten in der Heimat alles in die Landesverteidigung, sie hatten Zehntausende Tote bei den permanenten deutschen Luftangriffen zu beklagen, die in der letzten Kriegsphase zum Raketenterror eskalierten.
Am 8. Mai 1945 um 15 Uhr, als Premierminister Winston Churchill im Radio Deutschlands Kapitulation, also „das Ende des deutschen Krieges“ verkündete und die Massen in Whitehall und später vor Buckingham Palace jubelten, dominierte die Freude. „Dies ist euer Sieg!“, rief Churchill von einer Tribüne in Whitehall der versammelten Menge zu: „Dies ist eure Stunde! Dies ist nicht der Sieg einer Partei oder einer Klasse. Es ist der Sieg der gesamten großen britischen Nation.“
80 Jahre später ertönen diese Worte erneut im Herzen Londons per Lautsprecher, zum Auftakt der Militärparade von einem Schauspieler verlesen. Der Appell an den Gemeinschaftsgeist passt zur britischen Labour-Regierung, die sich in der Tradition jener Labour-Vorgänger versteht, die bei den Wahlen 1945 Churchill abgelöst und den modernen britischen Sozialstaat geschaffen hatten. „Der 80. Jahrestag ist ein Moment der nationalen Einheit“, hat Premierminister Keir Starmer gesagt. Man erinnere sich an die Gefallenen „bei der Verteidigung der Werte, für die sie kämpften und die uns als Nation verbinden“.
Aber am 13. Mai 1945 hatte Churchill in seiner ausführlichen Siegesansprache auch düstere Töne angeschlagen – Großbritannien hatte als Siegermacht nicht verhindern können, dass die USA und die Sowjetunion Europa unter sich aufteilen. „Ich wünschte, ich könnte euch sagen, dass all unsere Mühen vorüber sind“, sagte der Premier. „Aber im Gegenteil: Ich muss euch warnen.“ Er führte aus: „Es würde wenig nützen, die Hitleristen für ihre Verbrechen zu bestrafen, wenn Recht und Gesetz nicht walteten und wenn totalitäre oder Polizeistaaten an die Stelle der deutschen Invasoren träten. Wir verlangen nichts für uns. Aber wir müssen dafür sorgen, dass die Sache, für die wir kämpften, am Friedenstisch in Taten und nicht nur in Worten anerkannt wird, und vor allem, dass die Weltorganisation, die die Vereinten Nationen in San Francisco erschaffen, kein leeres Wort bleibt, kein Schutzschild für die Starken und keine Verhöhnung der Schwachen.“
Prophetische Worte angesichts des Zustands der Welt 2025 – und auch das ist der britischen Labour-Regierung, die sich die Bewahrung einer regelbasierten Weltordnung auf die Fahnen geschrieben hat und an der entschlossenen Unterstützung der Ukraine gegen Russland festhält, sehr bewusst. Zu den Gedenkfeiern war am Montag auch ein Kontingent von Soldaten aus der Ukraine geladen, das unter Beifall durch die Straßen marschierte. Am Dienstag berichtete der Daily Telegraph, Premierminister Starmer habe eine Überarbeitung der geltenden britischen Verteidigungspläne aus dem Jahr 2005 angeordnet. Es geht dabei um den Heimatschutz im Falle einer auswärtigen Kriegserklärung.
Winston Churchill im Mai 1945
Dass man sich in wenigen Jahren im Krieg mit Russland wiederfinden könnte, davor hätten hohe britische Generäle mehrfach gewarnt. Die Blaupausen zur atomaren Selbstverteidigung würden jetzt überarbeitet und Cyberkrieg in die Planungen integriert, so der Bericht.
Die Hoffnung auf ein besseres Land und eine bessere Welt steht bei den Gedenkfeiern im Mittelpunkt – ähnlich wie 1945. Ab Dienstagabend werden Hunderte öffentliche Gebäude in den Nationalfarben angestrahlt, zur Erinnerung daran, dass mit dem Kriegsende 1945 auch die Verdunkelungspflicht zum Schutz vor Luftangriffen fiel. Ein Gedenkgottesdienst am 8. Mai beginnt mit zwei landesweiten Schweigeminuten. Und 30.000 künstliche rote Mohnblüten, in Großbritannien die traditionellen Gedenkblumen an die Kriegstoten, erinnern im Graben des Tower of London in Form einer klaffenden Wunde an das unbewältigte Erbe von 1945.
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