: Der Poetik des Versuchs verpflichtet
Paul Watermanns Debütroman steht der Lyrik näher als der Prosa. „Moskovian Kinder“ ist ein Mix aus sinnlichen Miniaturen, Skizzen und Rätseln
Von Michael Wolf
Ein seltsamer Gedanke fällt einem bei der Lektüre entgegen, fällt aus den Seiten heraus: Jugend könnte vielleicht gar keine Zeitspanne in einem Leben sein, ja, viel besser als für eine biografische Phase würde der Begriff als Bezeichnung für spezifische Räume passen. Das Freibad wäre hier zu nennen, genau wie die Bushaltestelle oder die Parkwiese, doch würden nicht allein diese Orte zur „Jugend“ taugen, es müssten sich an ihnen außerdem bestimmte Konstellationen ergeben: dünnhäutige, klamme Menschen müssten sich gegenüberstehen, Blickachsen sich treffen und aneinanderschmiegen wie morsche Mikadostäbchen. Ginge einer weg, fiele ein anderer um.
Es ist nicht leicht, vielleicht nicht möglich, alleine in der Jugend zu bleiben, weil es im Raum dieses Namens keine Schwerkraft gibt, weil er alles haltlos macht, alles stürzen oder fliegen lässt. Die eskapistischen Selbstversuche, denen sich die titelgebenden „Moskovian Kinder“ in Paul Watermanns Debüt hingeben, sind dementsprechend verzweifelt um Stabilität bemüht, und sei es dadurch, das unaufhörliche Schwanken der unzuverlässigen Welt um einen herum mit dem eigenen rauschbedingten Torkeln zu synchronisieren. Kotzend findet sich da etwa Leonie am Waldrand wieder, ihr Erbrochenes fällt auf trockenes Laub, sie riecht beides gleichermaßen stark und denkt: „Wie Zwillinge, die gleich aussehen, nur dass die eine Pornostar geworden ist und die andere in einem Büro arbeitet.“
Watermann versammelt lose verbundene Prosaminiaturen, kleine Geschichten, Beobachtungen, Skizzen und Rätsel. Viele davon handeln von einer Gruppe junger Menschen, die trinken, träumen und versuchshalber lieben. „Die Kinder kommen vom Don, aus der Tatra, den lechzenden Steppen der Ukraine und manche kommen aus Liverpool. Sie verlieren ihre Unschuld an Nächte, in denen sie zusammengekauert in Ecken sitzen, in die reiche Menschen nicht mal gucken.“
Da wäre etwa die einbeinige Leonie, ohne die alles 20 Prozent langweiliger wäre; da wären die kiffenden „Safariboys“; da wäre Leon, den die Einsamkeit ins Fußballtor getragen hat; da wäre Marie, die in Gedanken hinbekommt, was ihr im Leben schwerfällt. Ihnen allen ist der Humor eine nette große Schwester, die beruhigend über ihre Rücken streichelt. Und das, obwohl es sie selbst graust angesichts der ungeheuren Traurigkeit, die hier zwischen den Zeilen dräut. Um nicht in ihre Fänge zu geraten, nicht zwischen die Linien zu stürzen, tappen die Figuren höchst vorsichtig durch ihre kargen Existenzen.
Watermann, geboren 1986 im niedersächsischen Melle, studierte zunächst an der Sporthochschule Köln und anschließend literarisches Schreiben am Literaturinstitut Leipzig. Sein Debüt „Moskovian Kinder“, herausgekommen im kleinen Berliner Gans Verlag, hat mit der russischen Hauptstadt nur wenig zu tun, ist aber ohnehin nicht mit dem groben Besteck der Hermeneutik erfassbar. Diese Prosa steht der Lyrik näher als dem Roman. Wichtiger als das Erzählen, also die Aneinanderreihung von Sätzen zum Zweck des Baus einer Sinneinheit, ist hier die Sinnlichkeit selbst, nicht also der Verlauf, sondern das Stolpern über die eine Stelle.
Zu Fall bringen will dieser Band den Leser also, das Ziel ist klar, die Strategie jedoch flexibel. Watermann folgt einer Poetik des Versuchs, die Wörter aufeinanderprallen lässt, bis sie Sätze wie diesen bilden: „Liebe ist eine Möwe, die in einem Samtanzug deplatziert aussieht und der Tod ist genau das Gleiche.“ Schwer und zugleich leicht ist seine Prosa, ihre Wörter ähneln Steinbrocken und Spielzeugen. Lesend nimmt man beide in die Hände, lässt sie aufeinanderprallen und lauscht dem Echo nach. Es klingt, als wäre jemand vor langer Zeit hingefallen und dann wäre etwas kaputtgegangen.
Paul Watermann: „Moskovian Kinder“. Gans Verlag, Berlin 2024, 150 Seiten, 24 Euro
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