: Meine Demo im Liegen
#LongCovid erschien vor fünf Jahren als Hashtag auf Social Media, lange bevor die WHO den Namen als offizielle Bezeichnung der Krankheit übernahm. Für viele der Betroffenen, deren Welt geschrumpft ist, machen Instagram und X eine Tür nach draußen auf. Und schaffen eine Möglichkeit, laut zu sein. Unsere Autorin spricht aus Erfahrung
Von Jana Petersen (Text) und Oliver Sperl (Illustrationen)
Am Anfang war der Hashtag. Der Tweet, den die italienische Wissenschaftlerin Elisa Perego am 20. Mai 2020 absetzte – ein Hinweis auf langanhaltende Covid-Symptome –, bekam gerade mal einige Dutzend Likes. Und doch setzte der Begriff, den sie darin nutzte, etwas in Bewegung: #LongCovid wurde zum digitalen Echo der Pandemie.
Es dauerte nicht lange, bis der Hashtag sich verbreitete. In der Frühphase der Pandemie nutzten ihn Tausende Betroffene, die sich im Vakuum der medizinischen Ahnungslosigkeit online austauschten, um auf Symptome aufmerksam zu machen. Nur drei Monate später griff sogar die WHO den Namen auf und erklärte ihn zur offiziellen Bezeichnung. Das ist ein Novum: Long Covid ist „das erste Krankheitsbild, das dadurch entstanden ist, dass Patienten sich auf Twitter und anderen sozialen Medien gefunden haben“, schrieb Elisa Perego 2021. Long Covid ist so sehr mit einer Graswurzelbewegung verbunden, dass die Anthropologin Nasima Selim empfiehlt, den Begriff ausschließlich mit Hashtag zu verwenden: #LongCovid.
Was folgte, war kein klassischer medizinischer Diskurs, sondern ein kollektives Suchen und Sprechen in digitalen Räumen. Der Hashtag wanderte durch Online-Räume, von Twitter – heute X – über Foren bis zu Instagram, Facebook, Youtube und in Messengergruppen bei Whatsapp, Signal und Telegram. Bis heute. Doch #LongCovid steht nicht nur für eine der am häufigsten auftretenden chronischen Krankheiten weltweit – der Hashtag prägt bis heute das Leben vieler Betroffener. #LongCovid symbolisiert eine soziale Bewegung, eine heterogene Community, die sich seit fünf Jahren auf Social Media formt.
Ich bin mittendrin, Teil dieser Bewegung, dieser Community. Seit drei Jahren begleitet mich der Hashtag im gleichen Maße wie meine Symptome. Im Mai 2022 wurde bei mir Long Covid diagnostiziert, von meinem Hausarzt, der neben der Diagnose zwar Verständnis, aber keinen Rat hatte. Fast alles, was ich über die Krankheit weiß, habe ich auf Social Media gelernt. Ich bin arbeitsunfähig, verrentet und behindert. Seit drei Jahren kann ich die Wohnung kaum verlassen. Drei Jahre, in denen ich mich mit dem Hashtag täglich auf die Suche mache nach Linderung, nach Austausch, nach Mut.
Wenn ich morgens aufwache, öffne ich die Visible-App, entwickelt von dem britischen Long-Covid-Betroffenen Harry Leeming. Ich habe Visible vor zweieinhalb Jahren auf Twitter entdeckt, da war gerade die Betaversion online. Seitdem messe ich mit der Kamera des Smartphones täglich Daten zu meinem Herzschlag und gebe meine Symptome und meine Schlafqualität ein. Die App berechnet daraus einen Stabilitäts-Score, der mir zeigt, wie belastbar ich an dem Tag bin. Ist zum Beispiel mein Ruhepuls höher als gewöhnlich, deutet das auf einen sogenannten Crash hin, eine Verschlimmerung aller Symptome, die zu absoluter Ruhe zwingt, manchmal viele Wochen lang. „Sei heute freundlich zu dir selbst“, bittet mich die App an solchen Tagen und erinnert mich daran, mich zu schonen.
Das Programm soll mich beim Pacing unterstützen, einem Krankheitsmanagement, das hilft, die passende Balance zu halten zwischen Belastung und Erholung. Wie viele Long-Covid-Betroffene habe ich ME/CFS, eine schwere Krankheit. CFS steht für Chronisches Fatigue-Syndrom. Der Name ist irreführend, denn das Leitsymptom ist nicht Müdigkeit, sondern die sogenannte PEM, die post-exertionelle Malaise. Das ist eine spezifische Form der Belastungsintoleranz, die ein sorgfältiges Abwägen aller Anstrengungen erfordert. Schon ein Telefonat zu viel kann einen Crash auslösen. Viele der genauen Mechanismen der Erkrankung sind immer noch ungeklärt, aber Studien belegen, dass dabei unter anderem der Energiestoffwechsel und das Immunsystem gestört sind.
ME/CFS kann durch unterschiedliche Viren verursacht werden, also nicht nur durch Covid. Als Anfang 2020 aus Wuhan erste Berichte über das neue Virus gemeldet wurden, warnte die ME/CFS-Community auf Social Media vor den postviralen Symptomen, die Covid hervorrufen könnte. @longcovidman schrieb 2022 auf Twitter: „Gott segne all die resilienten #mecfs-Veteran:innen, die uns strauchelnde #longcovid-Neulinge aufgenommen und uns behutsam eingeweiht haben.“ Auch wenn Long Covid und ME/CFS nicht identisch sind (nicht alle Long-Covid-Betroffenen entwickeln ME/CFS, nicht jedes ME/CFS ist post-Covid), so sind die Krankheiten doch vielfältig verbunden, nicht nur medizinisch, sondern auch in ihrem Krankheitserleben. Zudem überschneiden sich die Communities; der Hashtag #mecfs wird besonders häufig mit #LongCovid zusammen benutzt.
Nach der Messung mit der Visible-App, noch im Bett, greife ich mir ein Gerät zur Vagusnerv-Stimulierung. Der Vagusnerv wird von SARS-Cov2 angegriffen, das habe ich schon kurz nach meiner Infektion in einem Text gelesen, der auf Twitter geteilt wurde. Der Nerv ist entscheidend für die Kommunikation zwischen dem Gehirn und den inneren Organen. Ich unterstütze ihn täglich mit Atemübungen. Seit einem Jahr nutze ich dazu auch ein Gerät, für dessen Kauf viele meiner Follower*innen und Freund*innen in einer Fundraising-Aktion gespendet haben. Ich klemme mir das Gerät ans Ohr, es fließen Mikroimpulse durch den Kontakt und stimulieren den Nerv, während ich mit Schlafmaske daliege, und gleichmäßig atme, um den Effekt zu unterstützen.
Die Krankheit betrifft viel häufiger Frauen
Ich schnappe mir mein Handy und öffne Instagram. Der Algorithmus weiß, was mich beschäftigt, und spült mir #LongCovid-Reels, Stories und Postings in die Timeline. Am Mittwoch um 19 Uhr bietet @me_hilfe_ev einen virtuellen Schweigespace in einem Insta-Live an. Der Großteil des Contents wird von nicht-männlichen Personen gestaltet und veröffentlicht, was nicht verwundert, betreffen Long Covid und ME/CFS doch Frauen etwa dreimal häufiger als Männer; auch trans* und nicht-binäre Menschen haben ein höheres Risiko. Da ist die Podcasterin @visavieofficial, die ihren mehr als Viertelmillion Followern regelmäßig von ihrer Long-Covid-Erkrankung berichtet, von der Typ-1-Diabetes, die sie entwickelte, den absterbenden Zellen in ihrem Herzmuskel. Margarete Stokowski, Bestsellerautorin, ist seit mehr als drei Jahren erkrankt. Never forget ihre Liste von Dingen, die ihr gegen Long Covid schon empfohlen wurden, darunter Thomas Mann lesen, koksen, Penetrationssex, Netflix und positiv denken.
Da ist Synchronsprecherin und Musikerin Mia Diekow, die zu den ersten Betroffenen in Deutschland gehört und die Initiative Long Covid Deutschland mitgegründet hat, die auf Facebook sehr aktiv ist. Die erkrankte Designerin @sophsoph.psd entwickelt Sticker, Poster, T-Shirts, Caps und Kampagnen mit Long-Covid-Slogans. Die schwer an ME/CFS erkrankte Regisseurin Sibylle Dahrendorf twittert aus dem Bett und drehte von dort aus die Arte-Dokumentation „Chronisch krank, chronisch ignoriert“. Und da ist Dania Alasti, die vor ihrer Erkrankung Doktorandin in Philosophie war und ein Buch über Frauen in der Novemberrevolution schrieb. Auf ihrem Instagram-Profilbild sieht man sie lächeln, die Sonne hinter ihr wirft einen Strahlenkranz in ihr Gesicht. Alasti veröffentlicht auf ihrem Account kurze Gedichte, die sie in Crashphasen zwar nicht aufschreiben, an die sie sich aber erinnern konnte. Die meisten dieser Mit-Kranken habe ich nie gesehen, habe nie mit ihnen gesprochen. Wir schicken wir uns kurze Nachrichten in den DMs, wir liken unsere Stories, kommentieren Posts. „Die Long-Covid-Community im Netz war meine Rettung“, schreibt mir Dania Alasti. Nach ihrem ersten Crash schickte ihr eine betroffene Freundin Informationsvideos von Long Covid Deutschland. Erst da verstand Alasti die Wucht, die Belastung die Long Covid noch zeitverzögert entwickeln kann und wie sie diesem Risiko vorbeugen kann.
Ich habe elf Nachrichten in einem meiner Selbsthilfechats. In den Gruppen teilen wir Erfahrungen mit den Erkrankungen und Therapieversuchen, wir schreiben über die Herausforderungen, die die radikale Verkleinerung unserer Lebensräume mit sich bringt. Wir tauschen Adressen von Ärzt*innen aus, die bestimmte Medikamente verschreiben, wir geben einander Trost und Tipps im Crash (D-Ribose 3 mal 5 g am Tag, Magnesium und Elektrolyte hoch dosieren) und freuen uns, wenn es einer* mal ein paar Tage gut geht. In Gruppen wie diesen entsteht so etwas wie eine geteilte Wirklichkeit, das Gefühl, nicht allein zu sein. Teil davon ist ein vielstimmiger „Symptom Talk“, wie Anthropologen den Austausch über die vielfältigen Symptome nennen. Das sind Gespräche, die nicht nur die über 200 Symptome benennen und diskutieren, sondern auch Zusammenhalt stiften. „In diesen Onlineräumen geschieht so etwas wie ein Worlding, ein making worlds together,“ schreibt mir Lisa Wiedemann, die in Hamburg zu Verflechtungen von chronischem Kranksein und Digitalität forscht. Die Formulierung stammt von der Feministin Donna Haraway. Making worlds together. Wir schaffen uns eigene Welten. Genauso fühlt es sich an.
Ich liege noch immer im Bett, morgens sind die Symptome oft am schlimmsten. Aber jetzt steh ich wohl mal auf. Wobei, erst noch die Salztabletten mit den Elektrolyten nehmen, die @yumadino empfohlen hat. Die sollen gegen POTS helfen, das sogenannte Posturale Tachykardiesyndrom, eine der vielen Begleiterkrankungen meiner Diagnose. Mehrere Studien zeigen, dass bei Long-Covid-Betroffenen das Blut nicht optimal ins Gehirn transportiert wird. Indem ich vor dem Aufstehen ein großes Glas Wasser trinke und diese Tabletten schlucke, versuche ich, die Blutmenge zu vergrößern und Symptome wie Schwindel zu lindern.
Okay, jetzt aber wirklich aufstehen, rüber in die Küche, frühstücken. Die Handgriffe sind fast jeden Tag gleich: Tasse rausstellen, Wasser aufsetzen, Tee aufbrühen. Medikamente und Nahrungsergänzungsmittel bereitlegen (L-Lysin, L-Glutamin, Omega 3, Lions Mane, Ginseng, B12, Coemzym Q10). Haferflocken kochen, Apfel schneiden. Abläufe im Alltag zu wiederholen ist Teil des #TheRestTest, einer Versuchsreihe auf X, bei der Betroffene ein System entwickeln, um so viel Energie wie möglich zu sparen. Entscheidungen kosten Kraft, ein Mittel dagegen sind Routinen. Ich gehe duschen, ein paarmal die Woche geht das. Im Sitzen natürlich, so will es #TheRestTest. Danach erst mal Pause. Schlafmaske auf, Ohrenstöpsel rein und eine halbe Stunde nichts, nur atmen.
Als Menschen, für die das Internet oft der letzte erreichbare Raum ist, sind wir Long-Covid-Kranken auch zur Zielgruppe geworden. Auf Instagram preisen mir Anzeigen teure Präparate an, Vitamine, Aminosäuren, Mineralstoffe. Die Kapseln und Pülverchen sind in allen Selbsthilfe-Chats ein Dauerthema, weil immer wieder neue Studien erscheinen, die positive Wirkungen auf bestimmte Symptome andeuten. Es ist eine schwierige Balance: Probiere ich all die Nahrungsergänzungsmittel aus, auch wenn es nur wenige Erkenntnisse dazu gibt? Neben der finanziellen Belastung, die das bedeuten kann (ich habe in den vergangenen Jahren geschätzt den Gegenwert eines gebrauchten Kleinwagens geschluckt), können die Mittel in bestimmten Kombinationen oder Dosierungen sogar schaden.
Elisa Perego, Wissenschaftlerin
Health-Influencerinnen verkaufen Versprechen
Vor allem auf Instagram tauchen auch immer mehr selbsternannte Health Influencer*innen auf, die für viel Geld Healing-journey-Programme anbieten. Man brauche nur das richtige Mindset, heißt es da, dann könne man ME/CFS überwinden. @mia_diekow hat dem gefährlichen Phänomen jüngst mehrere Reels gewidmet. Keine Frage: Atemübungen und Meditation können sich positiv auf die Krankheitsbewältigung auswirken. Aber Heilung im medizinischen Sinne bedeutet das nicht. ME/CFS lässt sich nicht wegatmen – sonst wäre ich längst gesund.
Trotzdem bleibt die Bereitschaft, Dinge auszuprobieren. Seit einigen Wochen klebe ich mir nach dem Duschen ein Nikotinpflaster aufs Bein. I’m late to the party: Marco Leitzke, Oberarzt der Helios-Klinik im sächsischen Leisnig, hatte bereits 2023 in einer Studie die Hypothese formuliert, Long Covid könne mit einer Störung der Signalweiterleitung an Nervensynapsen zusammenhängen – ein Mechanismus, den Nikotin beeinflusst. Die Idee war spekulativ, doch sie traf auf eine Community, die offen ist, für Linderung alles Mögliche zu testen – auch handelsübliche Nikotinpflaster auf Körperteile zu kleben. In der Facebook-Gruppe „The Nicotine Test – Patients helping Patients“ tauschen sich mehr als 23.000 Betroffene über die Wirkung aus. Auf der Facebook-Seite werden Tutorials bereitgestellt, Erfahrungsberichte über Erfolge und Misserfolge dokumentiert, Rückmeldungen systematisch gesammelt.
Ins Leben gerufen wurde die Gruppe Anfang 2023 von einem norwegischen Betroffenen, der Leitzkes Paper gelesen hatte. „Viele verzweifelte Hilfesuchende wurden dadurch in einen Zustand der Selbstwirksamkeit versetzt“, schreibt Leitzke mir. Zunächst war er Admin der Gruppe, jetzt fungiert er vor allem als Supervisor und schreitet ein, wenn es dringende medizinische Fragen gibt. Leitzke spricht über die Gruppe mit Respekt, aber auch mit Vorbehalt: Die Bewertung der Effekte bleibe subjektiv, der wissenschaftliche Standard fehle. Und doch: Aus dem Austausch wurde im März 2025 eine Folgepublikation.
Die #LongCovid-Community wird zum Impulsgeber der Forschung. Und zu ihrem Multiplikator. Kaum wird irgendwo auf der Welt ein neuer Forschungsbericht oder eine Studienreihe veröffentlicht, beginnt das Posten auf allen Kanälen. Auch ich stelle die Ergebnisse in meine Stories, retweete und like, und hoffe, dass sich auch Leute außerhalb der Community für das „Broken Bridge Syndrom“, also geschrumpfte Teile meines Gehirns, oder die defekte Natrium-Kalium-Pumpe in meinen Mitochondrien interessieren.
Die Informationsgewinnung über Long Covid auf Social Media geht weit über das Beispiel des Nikotinpflasters hinaus. Betroffene arbeiten mit Forschenden zusammen, sie sensibilisieren für zentrale Symptome, initiieren Umfragen, dokumentieren Therapieversuche. Die „Patient-Led Research Collaborative for Long COVID“ sammelt Daten und wertet sie aus. Das Citizen-Science-Projekt @remissionbiome postet regelmäßig auf X Ergebnisse seiner Forschungsreihen experimenteller Therapien am eigenen, kranken Körper. Dieses „patient*innengetriebene Wissen“ hat – so schreiben es die Wissenschaftlerinnen Elisa Perego und Felicity Callard in ihrem Essay „How and why patients made Long Covid“ – Einfluss darauf, wie Long Covid verstanden wird, und könnte darüber hinaus das Verständnis von medizinischer Wissensproduktion generell verändern.
Ich ziehe mich an. Wieder liegen, Kraft sammeln für eine Haushaltseinheit. Abspülen, staubsaugen, Wäsche waschen, Wäsche abhängen, Wäsche zusammenlegen, ich muss mich entscheiden. Mehrere Punkte auf meiner Liste kann ich nie abarbeiten, selbst an sehr guten Tagen. An schlechten Tagen wende ich die 30-Sekunden-Regel an, die ich auf Youtube gelernt habe. Jetzt wird es kurz ein bisschen medizinisch. Weil das Blut von ME/CFS und Long-Covid-Betroffenen nicht optimal zirkuliert, kommt es zu Sauerstoffmangel. Diese Unterversorgung versucht der Körper durch schnelleres Atmen und höheren Herzschlag auszugleichen. Klappt das nicht, stellt der Körper auf eine andere Form der Energiegewinnung um, bei der als Nebenprodukt Laktat entsteht, Milchsäure. Es gibt die Hypothese, dass diese Übersäuerung auch die zeitversetzten Belastungsfolgen wie Fatigue, also extreme körperliche Schwäche, mitverursacht. Weil die Laktatausschüttung nach 30 Sekunden der Unterversorgung beginnt, entwickelten Sportmediziner eine Handlungsanweisung für Betroffene: Bewegungen im Alltag sollen konsequent in 30 Sekunden-Intervalle fraktioniert werden, auf eine halbminütige Belastung folgt eine mindestens halbminütige Unterbrechung. Eine Praxis, die Disziplin erfordert.
Der Abwasch ist erledigt. Wenn es gut läuft, schaffe ich es morgen, das Schlafzimmer zu saugen. Ich wärme mir einen Teller Suppe auf, setze mich an den Küchentisch. Maximal 15 Minuten kann ich sitzen, dann muss ich mich hinlegen. Rollo runter, Schlafmaske auf, Ohrenstöpsel rein. Mittagsschlaf.
Jedenfalls hoffe ich auf Mittagsschlaf. In Wirklichkeit wälze ich mich 20 Minuten herum und gebe dann auf. Ich checke meine Nachrichten. The Meal Train hat was auf Telegram geschrieben, sie wollen wissen, welche Nahrungsunverträglichkeiten ich habe. Ich schreibe: Histamin-, Laktose- und Glutenintoleranz. Der Meal Train fährt seit einigen Wochen durch Berlin. Über Telegram vernetzen sich Freiwillige, um schwer erkrankten und behinderten Menschen alle zwei Wochen warmes Essen vor die Tür zu stellen. Darunter sind Long-Covid- und ME/CFS-Betroffene, von denen viele, so wie ich, so schwer betroffen sind, dass Einkaufen und Kochen selten oder nie möglich sind. Beim Meal Train werden sie durch ein Freiwilligenteam versorgt, Ausgaben werden über eine Spendenkampagne auf GoFundMe finanziert. Der Meal Train ist ein Beispiel für Care Webs, Netzwerke der Fürsorge und praktischen Hilfe, die informell und improvisiert auch auf Social Media entstehen. Mein Handy leuchtet kurz auf, jemand schreibt in den Meal- Train-Chat, dass die Brokkoli-Suppe für nächste Woche mit Dill gewürzt ist und ob das ok ist.
Ich schicke ein Herz, gerührt von der Fürsorge dieser mir unbekannten Person, vergrabe den Kopf ins Kissen. Diesmal schlafe ich ein.
Für den Nachmittag hatte ich eigentlich geplant, Behördenpost zu erledigen. Der Antrag auf den Pflegegrad liegt schon monatelang herum. Ich weiß nicht, ob es die Überforderung ist, die diese Dokumente in meinem Zustand auslösen, oder die Scham, die damit verbunden ist, pflegebedürftig zu sein. Statt meinen Antrag auszufüllen, setze ich mich aufs Sofa und nutze die halbe Stunde, die ich nachmittags aktiv verbringen kann, für diesen Text. Ich sortiere all die Beobachtungen, Gedanken und Screenshots zum Hashtag, die ich in den vergangen drei Jahren gesammelt habe.
Community, Aufklärung, Forschung – all das klingt wie eine gelungene Solidarisierungspraxis, nach einem Lehrstück in Selbstermächtigung. Doch es gibt auch die andere Seite: Das Engagement macht eine Lücke sichtbar, eine Leerstelle. Alles, was rund um #LongCovid seit fünf Jahren getwittert und gepostet wird, ist Ausdruck eines strukturellen politischen und medizinischen Versagens. @maosbot bringt es schon 2022 auf den Punkt: „Rückblickend war das Einzige, das mich davon abhielt, mit #LongCovid noch kränker zu werden, nicht meine Ärzte, nicht mein Arbeitgeber, nicht die Gesundheitsbehörden – sondern eine Ansammlung von kranken Fremden auf Twitter.“
Der Long-Covid-Betroffene Harry Leeming entwickelte seine Visible-App nicht aus Langeweile, sondern aus Verzweiflung aufgrund mangelnder medizinischer Versorgung. @sophsoph.psd klärt auf Social Media über Long Covid und ME/CFS auf, weil es auch im sechsten Jahr mit dem Virus keine großangelegten staatlichen Infokampagnen über die Krankheiten gibt. Der Meal Train fährt, weil schwerkranke Menschen unversorgt zu Hause bleiben. Was der Staat nicht leistet, wird kollektiv getragen.
Diese Leerstellen sind Ausdruck politischer Entscheidungen. In die Körper und Lebensweisen der Betroffenen schreibt sich die Versorgungslücke ein, die fehlenden Therapien, die bürokratischen Hürden auf dem Weg zum Bezug von staatlich organisierten Transferleistungen. Die #LongCovid-Community ist der Effekt einer neoliberalen Verantwortungsverschiebung auf das Individuum, einer Privatisierung des Gesundheitswesens.
Der Aktivismus, der sich aus dieser Vernachlässigung entwickelt, ist auch eine Art Notwehr. Denn er findet oft aus der Horizontalen statt. Viele Betroffene sind körperlich so eingeschränkt, dass klassische Protestformen wie Demonstrationen für sie nicht möglich sind. Aber das, was die Sozialwissenschaftlerin Arseli Dokumaci „Mikroaktivismus“ nennt, kleine, konkrete Handlungen im Alltag, die soziale Veränderung anstoßen können, das schaffen wir. Ein Like, ein Retweet, das Teilen eines Beitrags, das sind für viele Long-Covid-Erkrankte Widerstandspartikel, auch für mich.
Dieser patient*innengeführte Aktivismus, wie Sozialwissenschaftler*innen das Phänomen beschreiben, baut auf den Erfahrungen vieler Pionier*innen auf. Etwa dem Aktivismus der HIV/AIDS-Bewegung und Formen digitaler Proteste in den 2010er-Jahren, die die Facebook-Revolutionen hervorbrachten. Die #LemonChallengeMECFS, bei der Prominente wie Robert Habeck und das Team von Werder Bremen mit einem Biss in eine Zitrone auf die Krankheit aufmerksam machen, erinnert an die „Ice Bucket Challenge“ für die neurologische Erkrankung ALS auf Facebook 2014. Damals schütteten sich Prominente Eiswasser über den Kopf. Es geht bei dieser Art Aktivismus nicht nur um Likes und Retweets, sondern zum Teil auch um richtig viel Geld. 2025 gelang es Long- Covid-Aktivist*innen in den USA, geplante Kürzungen der Forschung des National Institute of Health unter Trump abzuwenden. Millionen an Fördergeldern wurden nach öffentlichem Druck erneut bereitgestellt.
Aber auch Netzwerken und Bildschirmzeit rauben Kraft. Die Ärztin Natalie Grams begrenzt ihre Social-Media-Zeit vorsorglich auf 15 Minuten am Tag. Grams hat das Buch geschrieben „Entschuldigen Sie bitte, dass ich störe, aber wir müssen über Long COVID und ME/CFS reden“ und ist selbst betroffen. In Reels, aufgenommen in Etappen an besseren Tagen, klärt sie auf. An vielen Tagen liest sie konsequent keine Posts von anderen, um sich vor einer Reizüberflutung zu schützen. Jede neue Studie, jeder Therapievorschlag, jede Meldung darüber, dass Pflege abgelehnt wird, jeder Post darüber, dass jemand Sterbehilfe beantragt hat, ist Konfrontation mit der eigenen Ohnmacht.
Natalie Grams kennt auch den Hass, eine andere Nebenwirkung der Sichtbarkeit. 2022 verließ sie Twitter, nachdem ihre Kollegin Lisa-Marie Kellermayr nach massiven Drohungen durch Impfgegner Suizid beging. Grams schreibt mir: „Ich blocke teilweise präventiv. Ich diskutiere im Gegensatz zu früher auch nichts mehr. Ich antworte maximal einmal.“
Auch ich bekomme, sobald ich auf X etwas über Long Covid teile, bei fast jedem Post Relativierungen und Hassnachrichten in die Kommentare. „Ich überlege jeden Tag, wann ich meinen Account wieder schließe“, schreibt die Ärztin Grams. Nicht nur die Belastung, die das Klicken und Scrollen mit sich bringt, sieht sie kritisch – auch die Haltung des Meta-Konzerns, zu dem Instagram gehört. An den allermeisten Plattformen, auf denen wir agieren, verdienen Menschen, die eine Welt der Starken propagieren. Grams sieht zur Zeit trotz allem keine Alternative für Instagram, „gerade für Themen, die von der Öffentlichkeit noch nicht als wichtig erachtet werden“. Ob sich Social Media als sicherer Ort für chronisch Erkrankte jemals gestalten lässt?
Es dämmert, die Amsel singt auf dem Dach gegenüber. Ein Fahrer vom Meal Train klingelt, er trägt Maske und reicht mir zwei Schraubgläser mit Suppe. Ich packe sie ins Gefrierfach und mache mir die Portion von gestern warm. Die Sonne geht unter, ich lege mir die Pillen für den Abend zurecht, Ashwagandha, Melatonin, Magnesium, Vitamin C, Quercetin und ein Anti-Histaminikum. Bevor ich meine Atemübungen mache, scrolle ich durch meine #LongCovid-Screenshots der vergangenen drei Jahre. An einem Bild bleibe ich hängen. Da steht auf Englisch: „Die Geduld, die Gnade und die Stärke dieser Gruppen sind unglaublich. So viel Vernachlässigung und Gewalt zu trotzen, bei allen Widrigkeiten. Ich habe nichts als Respekt.“ Ich weine ein bisschen. Weil alles schon so furchtbar lange dauert. Weil ich nicht weiß, ob es jemals vorbei sein wird. Und weil es gut tut, gesehen zu werden.




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