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Über Monster, Meere und andere Abgründe schreien

David Thomas, Sänger der US-Avantrockband Pere Ubu, ist tot. Ein Nachruf

Rundum unzitierter und unzitierbarer Solitär: David Thomas, hier auf einem Foto von 2008 Foto: Emily Andersen/imago

Von Diedrich Diederichsen

Linker Kanal hohes elektronisches Fiepen, rechter Kanal ein Chuck-Berry-Riff. So beginnt „Non-Alignment Pact“ von 1978, die Vereinbarung zur Blockfreiheit, ein neues Liebesmodell und der erste Song auf dem Debütalbum von Pere Ubu. Hiermit ist nun das Geheimnis der Rock- und Pop-Musik, der elektrischen, recorded music ein für allemal ausgeplaudert: Es geht nicht primär um Songs, Erzählungen, Meinungen, Liebe und Empörungen. Es geht um irre, fremdartige Geräusche von Maschinen (ein Kanal), die aber kein Mensch aushalten würde, wenn sie nicht in klare, wahre Akkorde eingebettet wären (anderer Kanal).

Doch das allein reicht noch nicht, es fehlt ein drittes, die Verbindung, vor allem dann, wenn man die Bestandteile vorher so aufklärerisch offengelegt hat (wie später erst wieder The Jesus and Mary Chain): Diese Verbindung stiftet ein unvergleichlicher, nicht einfach technisch guter, sondern individueller, rührender oder überwältigender, verführender oder zurückweisender Gesang. Und der hebt Sekunden nach diesem Intro an. Es singt David Thomas und in seiner immer nahe am Überschlag, am Kippen ins Jodeln angesiedelten Hochgestimmtheit, ließ er uns wissen: „I want to make a deal with you, girl, and get it signed by the head of state.“

David Thomas ist am 23. April im Alter von 71 Jahren gestorben. Die Liebe als eine Vereinbarung der Blockfreiheit ist eine typische Idee für den US-Künstler. Das Historische, Krieg und Frieden, das Große und das Schlimmste sind ihm Lieblingsbilder für Liebe und Leben der meist vereinsamten Einzelnen, der großen Idiosynkraten. Aber er konnte dabei auch sehr euphorisch sein: In „We’ve Got The Technology“ ist es heutiges technisches Wissen, das eine Helligkeit auf Poesie wirft, die die historischen Dichter nicht kannten und deswegen zum Gang ins Dunkle verdammt waren.

In „Final Solution“ verlangt ein Teenager aus Verzweiflung wegen seiner Akne nach einer „Endlösung“ (ja, Incels gibt es auch schon länger, und Rachefantasien hatten in den 1970ern auch eine große Zeit). Doch auch ganz massive, punkige Deutlichkeit läuft in der Musik von David Thomas bald auf Auflösungen, Taktwechsel, überraschende Jazz-Mittelteile oder einfach den begnadeten Synthielärm seines langjährigen Mitstreiters Alan Ravenstine hinaus. (Ein später in seinen Beruf zurückgekehrter Flugkapitän, der aber bei Pere Ubu auch einige gute Nachfolger hatte). Und auch das Girl aus dem „Non-Alignment Pact“ ist keine klassische Angebetete, sie hat so viele Namen, „wie es Sterne gibt“. David Thomas zählt sie auf: „Peggy, Carrie-Ann, Bettie Jean, Jill, Jan, Joan, Sue, Alice, Cindy and Barbara Ann.“

Der letzte Name ist kein Zufall: Als Pere Ubu, aus dem sich seinerzeit langsam deindustrialisierenden Rust Belt Ohios kommend, mit ebenso hart-noisy, simpel rockmäßigen und künstlerisch überbordenden Mitteln 1975 sich erstmals meldeten, verkündete David Thomas, damals noch als Crocus Behemoth, zur Überraschung seiner sich in dystopischen Dreck ästhetisch einrichtenden Peer Group, dass er ein großer Fan von Brian Wilson sei, dem Autor des historischen Beach-Boys-Hit „Barbara Ann“.

Titel von berühmten Songs, Dramen, Romanen, Filmen, Musicals beherrschen die zahllosen Alben von Ubu (ich habe 21, aber mir fehlt etwa die Hälfte) und der anderen Bands von David Thomas (wie den Woodenbirds, den Pedestrians, den Pale Boys etc.): „West Side Story“, „Apocalypse Now“, Heart of Darkness“, „Blue Velvet“, „Down By the River II“, „Mona“ oder „My Boyfriend’s Back“ haben alle nichts mit den gleichnamigen Klassikern von Joseph Conrad, Leonard Bernstein, Neil Young oder Bo Diddley zu tun – nur „Surfer Girl“ ist tatsächlich ein Cover von „Surfer Girl“ der Beach Boys. Wer das alles nie gehört hat, könnte der Meinung sein, dass man es hier mit einem großen postmodernen Intertextuellen zu tun hatte, tatsächlich war er das auch ein wenig, aber David Thomas war auch ein meilenweit als einzigartige Type erkennbarer, rundum unzitierter und unzitierbarer Solitär.

Genauso oft wie von seinen Schädel durchpflügenden Bildungsgütern schrie und seufzte er über Monster, Meere, Abgründe und über Tiere, vor allem Vögel aller Art. Kreaturen. Er tendierte zur hingebungsvollen Identifikation mit dem Nichtidentischen, war aber bei aller Poesie auch um ungerechte Urteile nicht verlegen: „Musicians Are Scum“ oder „Why I Hate Women“. In all den Jahren spielten zahllose bedeutende Musiker_innen bei Pere Ubu, von dem texanischen Künstler und Intellektuellen Mayo Thompson bis zu dem britischen Artrock-Veteran Chris Cutler und natürlich der schon vor dem ersten Ubu-Album verstorbene, dylanisierende Jugendfreund, Proto-Punk und Dichter-Junkie Peter „Baudelaire“ Laughner. Und sosehr Thomas harte, schnelle Stücke, Rockgitarren und außerirdische Elektronik liebte – es musste immer wieder auch mal ein Trompeter dabei sein, später wurde dann daraus die Freundschaft mit dem famosen Andy Diagram von den Diagram Brothers.

Sosehr Thomas harte, schnelle Stücke und Rockgitarren liebte – es musste immer wieder auch mal ein Trompeter dabei sein

Wer je an norddeutschen Herbstabenden der ausgehenden Regierungszeit von Helmut Schmidt das Album „Dub Housing“, Seite 1, durchgehört hat, wenn im Titeltrack jamaikanische Produktionstechnik mit der Trope des Horrorhauses, nun aber zu verlassenem sozialen Wohnungsbau in Ohio gesteigert, zu etwas so zugleich Komischen und Erschütternden verschmilzt, das trotz allem kantabile bleiben will, und dann noch ein Lied folgt, in dem Dr. Caligari's Kabinett von betrunkenen Seeleuten heimgesucht wird, wird David Thomas nie vergessen.

Mir sagte er einmal im Gespräch, dass es immer ein sehr spezieller, seltsamer, unbeschreiblicher Moment war, wenn sein Vater in der Kindheit zu Hause Opern angehört habe. Diese Atmosphäre lasse sich nicht überbieten und er wisse genau, wie er sie bei sich auslösen könne, und außerdem, dass jeder andere Mensch genau dieses Gefühl, diese Stimmung auch kenne, nur dass sie von etwas ganz anderem ausgelöst würde und sich auf ein anderes Haus, andere Eltern bezöge. Aufgabe der Kunst sei es, diese Auslöser immer wieder herbeizuschaffen. Das gelang ihm, tonnenweise.

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