: Weniger Waffen, weniger Polizeitote
Seit den Schüsse in Oldenburg wird der Ruf nach unbewaffneter Polizei lauter. In anderen Ländern ist das schon lange üblich
Von Robert Matthies
Der Tod des 21-jährigen Lorenz A. in Oldenburg, der in der Nacht zum Ostersonntag von einem Polizisten durch Schüsse von hinten getötet wurde, hat die Debatte über die Verhältnismäßigkeit polizeilichen Handelns, strukturellen Rassismus und auch über Alternativen zur Bewaffnung der Polizei wieder angefeuert. Während die Deutsche Polizeigewerkschaft (DPolG) die Chance nutzt, ihre Forderung nach einer flächendeckenden Einführung von Tasern zu erneuern, also Elektroschockgeräten zur vorübergehenden Lähmung, fordern Aktivist:innen und zivilgesellschaftliche Projekte eine grundlegende Reform der Polizeibewaffnung in Deutschland – oder sogar deren Entwaffnung.
Dass eine im Alltag unbewaffnete oder deutlich weniger bewaffnete Polizei möglich ist, zeigen Länder wie Norwegen, Island, Irland, Neuseeland und Großbritannien, wo sie traditionell die Norm ist. Dort kommt es zu deutlich weniger Todesfällen durch Polizeischüsse. So tragen rund 90 Prozent der Polizist:innen in England, Wales und Schottland im Alltag keine Schusswaffen. Nur spezialisierte Einheiten wie die Armed Response Units sind dort bewaffnet und werden bei Terrorlagen oder Überfällen hinzugezogen. Grundlage ist das Konzept des „Policing by Consent“, das betont, dass die Polizei die Zustimmung der Bevölkerung braucht – und deshalb möglichst unbewaffnet agieren sollte, um Vertrauen zu schaffen.
Möglich ist ein solches Modell durch eine intensive Deeskalationsausbildung, die Polizist:innen darauf vorbereitet, Konflikte ohne Waffengewalt zu lösen. Sie lernen, durch Kommunikation und taktische Rückzugsstrategien Konfrontationen zu entschärfen. Großbritannien hat deshalb eine der niedrigsten Raten tödlicher Polizeigewalt weltweit, seit 2010 lag die Zahl bei durchschnittlich drei bis vier Todesfällen pro Jahr. Zum Vergleich: In Deutschland gab es im vergangenen Jahr 22 Todesfälle durch Polizeischüsse. Dieses Jahr könnten es noch mehr werden: Bis Ende April hat die Polizei bereits elf Menschen erschossen.
Auch Neuseeland hat eine überwiegend unbewaffnete Polizei. Dort tragen etwa 95 Prozent der Polizist:innen im Streifendienst keine Schusswaffen. Für den Notfall sind diese jedoch in speziellen Fächern in Polizeifahrzeugen verfügbar und können etwa bei bewaffneten Konfrontationen eingesetzt werden. Auch die neuseeländische Polizei betont ihre Rolle als Teil der Gemeinschaft, was durch Programme unterstützt wird, die auf „Restorative Justice“ abzielen, ein Ansatz zur Konfliktlösung, der auf Wiedergutmachung, Versöhnung und Heilung statt auf Bestrafung setzt. Neben der Waffenlosigkeit ist auch hier die umfassende Ausbildung in Kommunikation und Deeskalation ein zentrales Element.
Ein Pilotprojekt, das nach den Terroranschlägen von Christchurch 2019 gestartet wurde und bei dem einige Einheiten bewaffnet Streife gingen, stieß in der neuseeländischen Bevölkerung auf starken Widerstand. 2020 wurde es wieder abgebrochen, stattdessen wurde die Ausbildung verbessert, und Projekte wie das „Tactical Response Model“ sollen Polizist:innen besser auf Krisensituationen vorbereiten. Zwischen 2000 und 2020 gab es in Neuseeland durchschnittlich zwei bis drei tödliche Polizeischüsse pro Jahr.
Auch in Norwegen tragen Polizist:innen im Alltag keine Schusswaffen, haben darauf aber in Einsatzfahrzeugen Zugriff. Nach dem rechtsextremen Anschlag von Anders Breivik 2011 wurde die Möglichkeit einer routinemäßigen Bewaffnung diskutiert, aber schließlich abgelehnt. Stattdessen setzte man auf strengere Regeln für den Waffeneinsatz und Deeskalation. Tödliche Polizeischüsse sind in Norwegen extrem selten.
Noch deutlicher ist der Fall Island. Dort ist die Polizei ebenfalls mit Ausnahme spezialisierter Einheiten unbewaffnet. Tödliche Polizeigewalt gibt es praktisch nicht: Seit der Gründung der modernen Polizei im 18. Jahrhundert gab es nur einen tödlichen Polizeischuss im Jahr 2013, der landesweit für einen Schock sorgte.
Aktuelle Projekte zur Entwaffnung der Polizei sind selten, aber es gibt Ansätze. Seit der Gründung der Police Scotland 2013, der zweitgrößten Polizeibehörde im Vereinigten Königreich nach der Metropolitan Police, gibt es dort eine bewusste Politik, die Bewaffnung auf ein Minimum zu beschränken. Ein regelmäßig evaluiertes Programm verstärkte ab 2016 den Einsatz von Deeskalationstechniken und weniger tödlichen Mitteln wie Tasern.
Im kanadischen Toronto testete die Polizei 2016, einige Cops ohne Schusswaffen einzusetzen, insbesondere bei Einsätzen mit psychisch Erkrankten. Das Projekt senkte die Todesrate, scheiterte aber an Sicherheitsbedenken der Polizist:innen.
Kriminologische Forschung zeigt, dass unbewaffnete Polizei Konflikte auch hierzulande entschärfen kann. Eine Studie von Dietrich Oberwittler und Sebastian Roché fand 2018, dass unbewaffnete Polizeimodelle in multiethnischen Stadtteilen weniger Spannungen mit Jugendlichen auslösen. Dabei betonen die Forscher:innen, dass institutionelle Transparenz und Vertrauen entscheidender sind als die Bewaffnung allein.
Einfach auf den deutschen Kontext übertragen lässt sich das Konzept einer unbewaffneten Polizei nicht. Zum einen ist die Polizeikultur zu unterschiedlich, zum anderen hat Deutschland eine höhere Prävalenz illegaler Waffen und organisierter Kriminalität.
Auch in Deutschland gab es jedoch in den vergangenen Jahren vereinzelte Diskussionen zur Entwaffnung der Polizei. 2016 etwa forderten die Bremer Jusos, orientiert am britischen Modell, eine Entwaffnung der Streifenpolizei, um sie bürgernäher und weniger bedrohlich wirken zu lassen. In Niedersachsen liefern aktuelle Studien und Projekte eine Grundlage für eine Debatte über eine Entwaffnung der Polizei. Eine im vergangenen Jahr veröffentlichte Studie der dortigen Polizeiakademie deckte Diskriminierungsrisiken in bewaffneten Polizeiroutinen auf, insbesondere bei Kontrollen von Personen mit Migrationshintergrund.
Projekte wie „HateTown“ der Hamburger Polizeiakademie wiederum setzen an diesem Punkt an, indem sie vorurteilsgeleitete Handlungen in urbanen Kontexten analysieren und konkrete Reformen vorschlagen. „HateTown“ empfiehlt verstärkte Deeskalationstechniken und Sensibilisierungstrainings, um Polizeibeamte für kulturelle und soziale Dynamiken zu schulen. Ziel ist es, Konflikte zu entschärfen und das Vertrauen der Bevölkerung zu stärken, insbesondere in Stadtteilen mit hoher Diversität.
Solche Ansätze könnten zumindest eine Grundlage für Reformen bilden, die bewaffnete Routinen hinterfragen und alternative Einsatzstrategien wie verbesserte Kommunikation fördern, auch wenn sie die Bewaffnung der Polizei nicht komplett aufgeben.
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