: Was wirklich mit Lisl geschah
Die Verfolgung ihrer Familie hat Judy Rosenthal zu einer US-Amerikanerin gemacht, die Liebe indes wieder zu einer Deutschen mit doppeltem Pass

Von Eva-Lena Lörzer (Text) und Bernd Hartung (Fotos)
Sie ist in Chicago geboren, zog aber 1979 der Liebe wegen nach München. Die Familie väterlicherseits lebte dort, bevor die Nazis kamen. 17 Familienmitglieder wurden umgebracht oder nahmen sich infolge der Verfolgung später das Leben.Heute wohnt sie in Frankfurt.
Draußen: Die Straßen sind voll an diesem Wochenende. Ein bekannter Rechtsradikaler hat zu einer Großdemonstration aufgerufen, die Antifa zu einer Gegendemonstration. In Judy Rosenthals Wohnstraße im Stadtteil Bornheim ist aber nur Kinderlachen zu hören.
Drinnen: Seit 28 Jahren lebt Judy Rosenthal in einer 4-Zimmer-Wohnung. Die 67-Jährige führt gerne durch die Räume. In allen stehen antike Möbel, „viele von meinen Eltern“. An die Küchenwände sind Fotos und selbstgemalte Bilder der Kinder und Enkel gepinnt. In beinahe allen Zimmern hängen großformatige Fotografien der Skulpturen von Judy Rosenthals Großtante, der Künstlerin und Schauspielerin Elisabeth Springer. Judy Rosenthal bietet Kaffee an. An einem langen Holztisch beginnt sie zu erzählen.
Verfolgung und Flucht: Ab 1933 wurde ihre deutsche Familie verfolgt. „Sie waren keine praktizierenden Juden, aber familiär eng auch mit anderen jüdischen Familien verbunden.“ Ihre Großeltern Anny und Julius entkamen 1936 mit Judy Rosenthals Vater und seinem Bruder sowie ihrem Hausstand in die USA. Rosenthals Urgroßmutter Dorline und Großtante Elisabeth, genannt Lisl, blieben zurück. Dorline kam ihre Tochter Anny Ende 1937 besuchen, ließ sich aber nicht überreden, in den Vereinigten Staaten zu bleiben. Sie wollte ihr Haus in München, vor allem aber Lisl nicht zurücklassen. Irgendwann blieb die Post der beiden aus. Annys Nachforschungen beim Deutschen Roten Kreuz nach Kriegsende ergaben nichts.
Herkunft: Anny und Julius sprachen auch in den USA weiterhin Deutsch. Deren Söhne, Rosenthals Vater Hans Wolfgang und ihr Onkel Felix, wuchsen aber als typische „American School Boys“ auf – aus Hans wurde John. John konvertierte als junger Mann zum Christentum, Judy Rosenthal wurde ohne jüdische Rituale groß. Daher nannte sie den 17-minütigen Kurzfilm über ihre Familie, den sie 2021 für die Ausstellung „Frankfurt und der NS“ machte: „Die Familie war jüdisch …“
Rückkehr nach Deutschland: Dass Judy Rosenthal nach Deutschland zog, hatte nichts mit ihrer Familiengeschichte zu tun. Sie war frisch verliebt in einen deutschen DAAD-Stipendiaten. Als der nach München zurückkehrte, beschloss sie 1979, dort ein Auslandsjahr zu verbringen. Kaum angekommen, trennte sie sich. Sie wurde Übersetzerin, verliebte sich neu, bekam einen Sohn, später noch eine Tochter, zog von München nach Bremen, von Bremen nach Frankfurt – und blieb.
Stadtarchiv: 2004 erfuhr sie von der Ausstellung „Verzogen, unbekannt wohin“. „Es ging um die erste große Deportation Münchner Juden.“ Auf ihre Anfrage beim Stadtarchiv München, ob Informationen zu ihrer Urgroßmutter und Großtante vorlägen, erfuhr sie, dass Dorline 1942 in das Ghetto Piaski in Polen verschleppt wurde. Lisl gehörte zu den ersten tausend Menschen, die 1941 aus München deportiert und nach drei Tagen Gefangenschaft in einer Militärfestung im litauischen Kaunas erschossen wurden.
Lisl: Über die künstlerischen Aktivitäten von Elisabeth Springer, die alle Lisl nannten, war der Familie nicht viel bekannt. Sie war ein Freigeist: unverheiratet, in der Kunstszene unterwegs. Dass ihre Schwester lesbisch war, erfuhr Anny erst nach dem Krieg. Und Judy Rosenthal erst Jahrzehnte später, dass Lisl in der Kunstwelt erfolgreich war: „Sie hatte Ausstellungen, ihre Werke und Darbietungen wurden besprochen.“ Seit den späten 1920ern war Springer, die Kunstkurse an einer Gewerbeschule belegte, Mitglied des progressiven Künstlerverbands „Die Juryfreien“. Mit zunehmenden Repressionen trat sie dem Jüdischen Kulturbund bei, der jüdischen Künstler*innen weiterhin ein Publikum ermöglichte. Später wurde sie Mitglied im Schauspielensemble des Jüdischen Kulturbundes Hamburg.
Lisls Werke: 1936 war sie in der „Reichsausstellung jüdischer Künstler“ im Jüdischen Museum in Berlin mit Skulpturen, Spielkarten und Masken vertreten. Eine Kritikerin schrieb: „Die Terrakotta-Plastik Mutter und Kind in ihrer blockhaften Geschlossenheit, dem engen Aneinanderschmiegen der beiden Körper, dem strengen, unpathetischen Ernst dieser Frau mit ihrem Kind legt Zeugnis ab von der starken Begabung der Künstlerin.“
Suche: Bis auf ein Aquarell, eine aus Tinte und Zahncreme gemalte Zeichnung, die Lisl dem Vater von Judy Rosenthal zum Geburtstag in die USA schickte, und einen Terrakotta-Kopf hat die Familie von den Werken nur noch Fotos. Rosenthal gibt die Hoffnung nicht auf, etwas über ihren Verbleib zu erfahren. Sie hat die Skulpturen, Gemälde und Grafiken auf „Lost Art“ gelistet, einer Online-Datenbank, die während der NS-Zeit geraubte Kulturgüter dokumentiert. Aktuell listet die Lost-Art-Datenbank über 175.000 Kulturgüter, deren Verbleib unklar ist.
Überlebensstrategie: Dass Dorline und Lisl von den Nazis getötet worden waren, war in der Familie kein Geheimnis: „Wir wussten nur nicht, unter welchen Umständen.“ Außer Anny hatte niemand der älteren Generation den Impuls, nachzuforschen. „Die Überlebensstrategie meines Vaters war es, nach vorne zu gucken, nie zurück.“
Trauma: Ihr Vater habe, meint Judy Rosenthal, seine eigene Mutter immer als anstrengend wahrgenommen und dabei keinen Zusammenhang zu ihrer Verfolgungsgeschichte hergestellt. „Die beiden hatten eine schwierige Beziehung.“ Anny nahm sich als ältere Frau das Leben. „Er dachte, sie hätte es getan, um ihn zu strafen, weil er sich wenig gekümmert hatte.“ Dabei hatte Anny den Verlust ihrer Mutter und ihrer Schwester wohl nie verwunden. Wie Judy Rosenthal erst spät erfuhr, hatte Anny bis ins hohe Alter Albträume, sah ihre Mutter immer wieder in Flammen aufgehen.
Aussöhnung: Als Judy Rosenthal der Familie zu Beginn der 2000er Jahre ihre Recherchen präsentierte, reagierten sie dankbar: „Sie haben sich gefreut, dass ich herausgefunden habe, was passiert ist.“ Ihr Vater, der nie nach Deutschland zurückkehren wollte, söhnte sich letztlich mit dem Land aus: „Er ist zu meiner Hochzeit nach Bremen gekommen und anschließend mehrmals nach Frankfurt.“
Engagement: Mittlerweile, meint die Übersetzerin, sei die Vermittlung der Geschichte zu einer Lebensaufgabe geworden: Sie macht gemeinsam mit dem Nachkommen einer Täterfamilie Veranstaltungen und hat zusammen mit dem Frankfurter Fritz-Bauer-Institut ein Unterrichtsmodul zu ihrem Kurzfilm über die Familie erarbeitet, mit dem sie auch an Schulen geht. Das Modul gibt Schüler*innen die Möglichkeit, sich mit den Geschichten unterschiedlicher Angehöriger Judy Rosenthals zu beschäftigen. Das Unterrichtsmaterial funktioniert auch für Schüler*innen, die nichts über die Zeit damals wissen und keinen familiären oder kulturellen Bezug dazu haben. Darauf wurde geachtet.
Staatsbürgerschaften:Judy Rosenthal hat den amerikanischen und den deutschen Pass. „Uri Siegel, ein bekannter Restitutionsanwalt in München, hat mich in den 80ern darauf hingewiesen, dass ich Anspruch auf die deutsche Staatsbürgerschaft habe.“ Mit ihm verband sie eine Freundschaft. Sie zeigt auf einen handbemalten Bauernschrank in einem der Zimmer: „Den hat er gestaltet.“ Auf die Frage, wo sie gerade schlimmere Entwicklungen befürchtet, in den USA oder in Deutschland, entgegnet sie: „Es ist schwer, das getrennt zu betrachten. Trump geht es offenbar allein um Zerstörung. Aber auch in Europa werden die antidemokratischen Kräfte stärker.“
Was sagt sie zu Merz? „Ich halte ihn für einen Opportunisten und befürchte, dass er den Rechtsruck nicht aufhalten, sondern verstärken wird.“ So verstörend sie den Gedanken findet: Die Entwicklungen wundern sie wenig. Eine echte Aufarbeitung der NS-Zeit sei nie erfolgt. Die könne nur passieren, wenn die Menschen bei ihren Familien nachforschen, was tatsächlich passiert ist. „Die eigene Familie ist am nächsten dran. Über Familiengeschichten wird Geschichte begreifbar.“
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