: Steinchen für Steinchen Sehnsucht
Die Zeiten sind hart und ungemütlich. Das weiß auch die Spielwarenbranche und setzt vermehrt auf Angebote für große Kinder, sogenannte „kidults“

Von Simone Dede Ayivi
Erwachsensein hat seine Vorteile. Niemand sagt uns, wann wir ins Bett gehen sollen. Und wir können selbst entscheiden, wie viel Geld wir für Spielzeug ausgeben wollen. Bei mir führt das dazu, dass ich oft zu lange aufbleibe und Zeit mit Lego verbringe. Oder besser gesagt: mit Klemmbausteinen. Denn die dänische Firma ist längst nicht mehr der einzige Hersteller von Konstruktionsspielzeug mit Noppen und Röhren. Als Kind hatte ich einen große Wühlkiste mit Legos im Zimmer. Meine Steinesammlung von heute ist geordnet und die Sets, die mir ins Haus kommen, sorgfältig kuratiert. Und da spielen heute nicht mehr mein Hauptjob ist, bleibt mir nur der Feierabend, um buntes Plastik zusammenzustecken.
Wie ich gehen immer mehr Erwachsene auf dem Heimweg in der Spielwarenabteilung vorbei, um ihr Erwachsenengeld für etwas auszugeben, das sie ihre Verpflichtungen vergessen lässt. Der Spielwarenbranche ist das schon länger bewusst. Ihr Wort für uns ist „kidults“, ein Portmanteau aus „kids“ und „adults“. Es meint Erwachsene, die gerne Dinge tun, die man sonst eher Kindern gönnt: Sammeln, Spielen, Basteln.
Als ein Auslöser für diesen Trend gelten die unsicheren Zeiten. Permanente Krisenmeldungen lassen einen das digitale Endgerät beiseite legen und die Überforderung im Alltag fordert einen Ausgleich. Draußen ist es ungemütlich. Die Außenwelt liefert Kopfzerbrechen. Abends schafft man sich dann eine eigene kleine Welt. Und die ist noch in Ordnung?
Das Angebot an Spielwaren für Erwachsene ist vielfältig, und hier wird Gegenwartsflucht gleich doppelt bedient. Nicht nur durch das Spielen an sich. Sondern auch durch nostalgische Motive mit dem „Weißt du noch, damals?“-Effekt. So war das schon bei den Kidults meiner Jugend: Ich erinnere mich an die viktorianische Puppenstube einer Nachbarin, Porzellanpuppen in Trachten oder Modelleisenbahnen, bei denen Züge um kleine Schwarzwaldhäuschen kreisten. Es gab Fachwerk, verschneite Berggipfel und Kleinstadtidylle: ein Heimatmuseum im Kleinen. Ein konservatives Deutschlandbild. „Tuut-tut“ macht die Dampflok. Dieses „Früher war alles besser“-Mindset war mir schon immer suspekt, und da wir als Jugendliche gemeinsam die Augen darüber verdreht haben, dachte ich lange, das sei Konsens in meiner Generation, eine Generationen-Verabredung: Millennials tragen die Zukunftsgewandtheit schließlich im Namen.
Doch ich habe mich geirrt. Das zeigen die ständigen Facebook-Posts „echter 90s-Kids“, die noch wussten, was man mit einer Kassette und einem Bleistift anfangen kann. Auch bei meinen Altersgenoss*innen hat das Heimweh nach der Vergangenheit eingesetzt. Nur eben anders. Jede Generation verdient ihre eigene Nostalgie. Das wissen auch die Hersteller von Klemmbausteinen. Und deshalb sind die 90er gerade hoch im Kurs.
Auf „Lego Ideas“, der Plattform, auf der Lego-Fans eigene Entwürfe für neue Sets einreichen und darüber abstimmen können, welche davon der Konzern umsetzt, gibt man uns die Jugend zurück. Das Motto: „Build your Nostalgia – 90s throwback“.
Aktuell läuft die Abstimmung über Sets zu Kultserien und Filmen der 90er. Im Rennen sind selbstverständlich auch „Akte X“ und „Buffy, the Vampire Slayer“. Wenn man bedenkt, dass Lego „Friends“ und „Die Simpsons“ bereits im Sortiment hatte, ist damit der Millennial-Popkultur-Kanon immer vollständiger. Auch andere Firmen setzen auf 90er-Nostalgie. Hersteller Pantasy etwa bietet einen „retro PC“ inklusive Minesweeper.
Das alles hat bei mir noch keine Gefühle ausgelöst. Doch vor Kurzem hat auch mich die Zuwendung zur Vergangenheit befallen. Beim abendlichen Bauen eines Plattenladens. Funwhole, die beleuchtete Klemmbaustein-Sets auf den Markt bringen, haben die Serie „Street-Fusion“ im Programm. 90er-Retro mit Motiven urbaner Street Art und Hip-Hop-Kultur. Der „Record Store“ baut sich fantastisch. Und selbstverständlich habe ich Spaß daran, Plattenspieler und Boomboxen zusammenzustecken und ein kleines Tonstudio einzurichten. Doch die Details, bei denen mich die Nostalgie erwischt hat, waren die Graffitis und – das hat mich überrascht – die Unebenheiten, die ich nach Anleitung in mein Plastikgebäude eingearbeitet habe, sowie die Risse im Asphalt. So sieht sie also aus: meine „gute alte Zeit“. Diese heile Welt hat Schmierereien an den Wänden und Kratzer im Vinyl. Das ergibt Sinn. Meine Sehnsuchtsorte der Vergangenheit sind Großstädte mit Brachen und Leerstand und dem Wildwuchs, der daraus erwächst. Es sind besetzte Häuser, Punkrock-Schuppen und Techno-Partys unter Autobahnbrücken.
Nun würde ich gerne sagen, dass Nostalgie mit Subkultur-Bezug objektiv cooler ist als die Sehnsucht nach Fachwerk mit Geranien davor. Mich überlegen fühlen, weil es keine konservativeren Zeiten sind, denen ich nachtrauere, sondern wildere. Aber das ist ein Trugschluss. Denn das Nachbilden dieser Möglichkeitsräume aus Plastik gibt mir ein Gefühl, das ich gerade vermisse: Sicherheit. Die Vergangenheit ist ein alter Vertrauter. In einer Gegenwart, die mich überfordert, sehne wohl auch ich mich nach einer Zeit, in der die Welt noch einfacher und verständlicher wirkt. Ich weiß, sie war es nicht. Aber aus der Jetzt-Perspektive fühlt sich „damals“ gut an. Auch ich neige nun also dazu, die Vergangenheit zu verklären. Diese Spießigkeit muss ich mir eingestehen. Mein Trigger war nur ein anderer: Subkultur. Wie schön und aufregend waren doch die Städte, als nicht alle Fassaden frisch verputzt waren.
Die ganze Serie hat es mir angetan. Das neueste Set ist ein Club in einer alten Fabrikhalle. Das Millennial-Marketing funktioniert. Ich kann mich kaum zurückhalten. Dabei ist das Bauen dieser Themenwelt gar nicht mehr so entspannend, wie es meine Klemmbaustein-Abende eigentlich sein sollten. Der Bauspaß bleibt. Doch hinzu kommen Gedanken über das Clubsterben, geräumte Punker-Kneipen und darüber, dass ausgerechnet in Kreuzberg ein Park umzäunt werden soll. Und so komme ich aus meiner neu entdeckten „Comfort-Zone Vergangenheit“ ganz schnell wieder zurück ins Jetzt.
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