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Die Opposition im Mainstream aufweichen

In Russland ein Erfolg: Regisseur Michael Lockshin hat die Romansatire „Der Meister und Margarita“ von Michail Bulgakow aus der Zeit des Stalinismus mit Stars wie August Diehl und Claes Bang verfilmt

Vertraute Bilder: Der Meister (Jewgeni Zyganow) beobachtet die russische Gesellschaft Foto: Capelight

Von Fabian Tietke

Ohne dass jemand zu sehen wäre, öffnet sich hinter dem Portier eines Luxusapartmentgebäudes im Moskau der 1930er Jahre die Haustür. Als der Portier den verdächtigen Bewegungen von Gegenständen folgt, mehren sich die Zeichen: ein heruntergefallenes Namensschild, ein Lift, der die Stockwerke hinaufgleitet. In der Wohnung des Literaturkritikers Latunsky wirbelt von unsichtbarer Hand geführt ein Fleischerhammer durch die Luft und zerlegt die Einrichtung. Als Latunsky sich schließlich einen Weg durch die Nachbarn bahnt, die empört auf das Wasser verweisen, das unter der Tür hervorquillt, steht er vor einem Bild der Verwüstung.

Michael Lockshins „Der Meister und Margarita“ beginnt mit imposanten Bildern eines mit viel Aufwand historisierten Moskaus – und mit einem Vorgriff aufs Ende seiner Handlung um einen Schriftsteller, der in die Mühlen der stalinistischen Kulturpolitik gerät, nur um dann unerwarteterweise vom Teufel selbst Unterstützung zu bekommen.

Für den Protagonisten (Jewgeni Zyganow) beginnen die Probleme, als sein Theaterstück „Pilatus“ ohne Kommentar plötzlich abgesetzt wird. Nur Stunden später wird er in der Schriftstellervereinigung zum Gegenstand einer inquisitorischen Anhörung, die vom ersten Moment an, in der der Versammlungsleiter den Kriker Latunsky um seine Stellungnahme zu „Pilatus“ bittet, auf die Verurteilung des Werks und seines Autors hinausläuft. Am selben Abend lernt der Autor den mysteriösen Deutschen Woland (August Diehl) kennen, der als nunmehr einziger den Kontakt zu dem in Ungnade gefallenen Autor sucht.

Wieder allein, lernt der Autor am nächsten Tag am Rande der Maiparade eine schöne Unbekannte (Yuliya Snigir) kennen, mit der er durch die Innenstadt Moskaus spaziert. Inmitten der computergenerierten nicht realisierten Bauten des Neuen Moskaus finden die beiden auf der Flucht vor ihrem bisherigen Leben – beziehungsweise aus diesem verstoßen – zueinander. Gleich in seinem zweiten Film verschlug es Lockshin in die Verfilmung eines der bekanntesten Romane der sowjetischen Literatur. Michail Bulgakows „Der Meister und Margarita“ entstand während der Hochphase der stalinistischen Paranoia von 1928 bis wenige Monate vor Bulgakows Tod im März 1940. Aufgrund der kleinbürgerlichen Kulturpolitik des Stalinismus konnte der Roman wie die meiste Prosa Bulgakows zu dessen Lebzeiten nicht erscheinen. Ab November 1966, kurz nachdem Leonid Breschnew Generalsekretär der KPdSU geworden war, erschien der Roman in einer stark zensierten Fassung in der literarischen Monatszeitschrift Moskau und wurde auf der Basis dieser Fassung umgehend in zahlreiche Sprachen übersetzt, unter anderem auch ins Deutsche und Englische. 1973 erschien erstmals eine vollständige Ausgabe. Bulgakows Roman gilt bis heute als eine der besten Satiren der sowjetischen Literatur.

Anspielungen auf Lebenswerk

Lockshins Adaption von Bulgakows Roman durchwebt diesen mit Anspielungen auf Bulgakows Leben und Werk. So ist es nicht wie in der Vorlage ein Roman über Pontius Pilatus, der dem Autor die Verbannung aus der Gunst des stalinistischen Kulturbetriebs einbringt, sondern wie in Bulgakows Künstlervita ein Theaterstück. Der Vorgängerfilm des Regisseurs, dessen Langfilmdebüt „Silver Skates“, eröffnete im Oktober 2020 das internationale Filmfestival in Moskau. Der Weihnachtsblockbuster handelt von einem Schlittschuhkurier, der sich im Sankt Petersburg der Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert in die Tochter einer adligen Familie verliebt. Die harmlose Handlung entfaltet sich in den Winterklischees eines schneebedeckten, opulenten Sankt Petersburg und seiner Kanäle. Der Film entstand mit erheblicher Unterstützung der russischen Behörden und löste einen Miniskandal aus, als die Farbe, mit der die Holzplanken, die das Eis stabilisierten, das Wasser der Kanäle der Stadt vergiftete. Trotz eines reduzierten Kinostarts in Zeiten der Pandemie feierte der Film Erfolge und wurde im Zuge dieser Erfolge von Netflix erworben, wo der Film ebenfalls gut lief.

Mit diesem Siegeszug im Rücken wurde er von dem Produktionskonsortium aus russischen Oligarchen und der Kinostiftung des russischen Staats für Regie von „Meister und Margarita“ gewonnen, die unterdessen vakant war. Das Projekt hatte 2018 begonnen und ursprünglich hatten die Produzenten Ruben Dishdishyan (bisher vor allem durch nicht selten patriotische Historienfilme bekannt) und Igor Tolstunov (ein Fernsehproduzent) den russischen Blockbuster-Regisseur Nikolai Lebedew für die Regie vorgesehen. Als dieser 2020 ausstieg, übernahm Lockshin und schrieb gemeinsam mit Roman Kantor ein neues Drehbuch. Der Film wurde 2021 gedreht.

Nachdem Russland im Februar 2022 seine Kampfhandlungen gegen die Ukraine in den bis heute andauernden genozidalen Krieg ausgeweitet hatte, stieg Universal aus der Produktion aus, und der Kinostart verzögerte sich immer wieder, bevor der Film schließlich im Januar 2024 in russischen Kinos anlief und im März in Yale seine internationale Premiere feierte. Lockshin wurde 1981 in den USA als Sohn des Krebsforschers Arnold Lockshin geboren. Sein Vater, langjähriges, aktives Mitglied der kommunistischen Partei der USA, verlor Ende der 1980er Jahre unter unklaren Umständen seine Arbeit und ging mit seiner Familie in die UdSSR, wo er Asyl beantragte. Michael Lockshin studierte in Moskau und wechselte anschließend nach London, wo er als Werbefilmer arbeitete. Seit 2021 lebt er in Los Angeles. „Der Meister und Margarita“ wurde in Russland nach seinem Kinostart überschwänglich aufgegriffen, und nicht selten wurden dem Film Parallelen zum Russland unter Putin unterstellt. Nur ein paar nationalistische Eiferer geiferten, was egal wäre, würde Russland nicht von nationalistischen Eiferern mit Drang zum Vernichtungskrieg regiert. Das größere Problem aber ist: „Der Meister und Margarita“ ist kein besonders gutes Werk. Es ist als Phänomen interessanter denn als Film. Lockshin inszeniert Bulgakows Roman wie die Schlittschuhfahrer im Vorgängerfilm und versteht keine Sekunde, dass es mehr bräuchte als gute Ausstattung und schöne Kulissen, um der Komplexität des Romans auch nur halbwegs gerecht zu werden. Lockshin schafft es, einen gut zweieinhalbstündigen Film zu inszenieren, ohne eine einzige filmische Idee zu haben. Es ist fast schon folgerichtig, wenn er für die letzte halbe Stunde seines Films auf einen Schauwert setzt, mit dem männliche Regisseure halbgare Filme noch immer zu retten versuchen, und seine Hauptdarstellerin sich auszieht.

Generischer Blockbuster

Lockshins Film sieht so aus, wie ihn Nikolai Lebedew vermutlich auch gedreht hätte: ein generischer, mittelguter Blockbuster ohne jede Relevanz für die Gegenwart, produziert vom Mainstream des russischen Films. Gerade weil er kein oppositioneller Film in einem sinnvollen Sinn ist, hätte dem Film nichts Besseres widerfahren können, als von russischen Nationalisten angegriffen zu werden.

„Der Meister und Margarita“ ist eine russische Großproduktion, die – ganz im Stile von Koproduktio­nen überall – durch die Einbeziehung von westeuropäischen Schauspielern – dem deutschen Schauspieler August Diehl als Woland und dem dänischen Schauspieler Claes Bang als Pontius Pilatus – seine Vermarktungschancen verbessern wollte. Nachdem Putin seinen Krieg gegen die Ukraine und Europa seit 2022 eskaliert, waren diese Chancen stark gesunken. Nun hat der Weg doch noch seinen Weg in deutsche Kinos gefunden. Wer trotz Sonne und zahlreichen besseren Filmen, die in den nächsten Wochen in die Kinos starten kann, nichts Besseres zu tun hat, kann hingehen. Alle anderen können es guten Gewissens lassen.

„Der Meister und Margarita“. Regie: Michael Lockshin. Mit August Diehl, Julia Snigir u. a. Kroatien/Russland 2024, 157 Min.

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