: Von der Bühne in die Baugrube
In Bosnien war Nezir Rahmanović alias Keze ein gefeierter Sänger und trat in Fernsehshows auf. In Berlin singt er nur noch am Wochenende in Bars. Doch die jugoslawische Volksmusik hat ihn auch dort nie wirklich verlassen
Von Sead Husic
Keze singt. Und sobald er singt, entflieht er der Welt. Seine Stimme trägt ihn in die Zeit, in der das Leben anders war. „Ich dachte, dass die Liebe ein Glas voll Glück statt voller Schmerz ist …“, singt er.
Frauen und Männer tanzen, den Refrain singen viele mit. Es riecht nach Parfüms, Zigarettenrauch und Alkohol.
Es ist kurz nach Mitternacht an einem Freitag im überfüllten Café Thron in der Kreuzberger Boppstraße.
Keze, in weißem Hemd und Jeanshose, steht mit dem Mikrofon in der Hand neben einem Ziehharmonikaspieler und schmettert einen jugoslawischen Hit aus den 80er Jahren.
Der Schweiß perlt auf der Stirn.
Eine ältere Frau im kurzen schwarzen Rock und einem paillettenbesetzten dunklen Blouson zückt ihren Geldbeutel, geht zum Ziehharmonikaspieler, steckt ihm fünfzig Euro in den Balg und wünscht sich einen alten Hit aus ihrer Jugend. „Das Leben ist nur Spiel und Zeitvertreib.“
Die Bedienung im Thron fliegt förmlich durch den Raum, verwirbelt die Rauchschwaden, bringt den Gästen Biere, Cocktails und Schnäpse.
Die „narodna muzika“ (Volksmusik) nimmt in fast allen Staaten Ex-Jugoslawiens eine wichtige Stellung ein, wie in Kezes Leben, der damit aufgewachsen ist. Der sozialistische Staat förderte die Volksmusik. In den Fernsehsendern und im Radio spielte man die Hits in Dauerschleife. Sie dienten der Unterhaltung, der Zerstreuung und stifteten ein Identitätsgefühl. Staatsgründer Tito galt als großer Fan der Volksmusik. Noch heute ist die „narodna muzika“ Ausdruck einer Lebenshaltung. Sänger genießen hohes Ansehen.
So wie Keze. Sein richtiger Name ist Nezir Rahmanović. Er kam 1966 im bosnischen Kiseljak, einer kleinen Ortschaft in der Nähe von Sarajevo, zur Welt. „Schon als Kind liebte ich es, die Schlager im Radio mitzusingen“, sagt er. Keze erzählt, wie er mit 17 einen landesweiten Gesangswettbewerb in seiner Heimat gewonnen hatte.
Fortan trat er in einem Restaurant seines Geburtsorts mehrmals die Woche auf und verdiente sich neben seiner Ausbildung zum Dreher etwas dazu. Er war eine Berühmtheit in Kiseljak, wurde auf Hochzeiten, Geburtstagen und den verschiedenen religiösen Feiern engagiert.
„Es spielte keine Rolle, ob Muslime, Serben, Kroaten oder Roma feierten, wir sangen alle die gleichen Lieder und betranken uns mit dem gleichen Schnaps“, sagt er. Dann steht er auf, gibt dem Ziehharmonikaspieler ein Zeichen und singt: „Setz dich kurz an meinen Tisch, fünf Minuten nur und erinnere mich an unsere gemeinsamen Tage …“
Kezes Auftritt endet erst morgens gegen sechs Uhr. Es wird gewischt. Keze packt sein Mikrofon in ein schwarzes Hartplastiketui. Er zieht das durchgeschwitzte Hemd aus, streift sich Unterhemd und Pullover über.
Keze verabschiedet sich vom Musiker und der Kellnerin, verlässt die Bar und geht durch die menschenleeren Straßen zur Haltestelle der U7, um nach Hause zu fahren. Er wirkt ausgelaugt, droht während der Fahrt einzunicken.
Wenig später sitzt er am Esstisch im Wohnzimmer.
Seine Frau Sejda bringt ihm schwarzen Kaffee. „Wie war’s?“, fragt sie. Er nickt. „Ganz gut.“
Doch nach einigen Minuten scheinen die Kräfte zurückzukehren. Keze wirkt trotz seiner Halbglatze immer noch jugendlich, wenn er von den alten Zeiten erzählt.
An der Wand hängen Fotos, auf denen er mit berühmten jugoslawischen Schlagerstars zu sehen ist. Für den bosnischen Superstar Halid Muslimović schrieb er vor einigen Jahren sogar den Hit „Tränen“. Zum Beweis zeigt Keze das Impressum der CD vor, wo er als Songtexter aufgeführt ist.
Sejda sitzt auf der Couch und rollt manchmal die Augen. „Die alten Geschichten. Wer will die schon hören?“, fragt sie. Er lächelt.
Nach seiner Ausbildung reparierte Keze in seinem Ort Waschmaschinen. Einmal sollte er bei einer recht traditionellen muslimischen Familie ein altes Gerät wieder in Gang setzen. Keze flirtet die Tochter des Hausherrn an. Er fragt, ob sie mit ihm ausgehen würde. Sie weist ihn ab, empfindet ihn als frech, erinnert er sich.
Doch Keze lässt nicht locker und präpariert ein Kabel an der Waschmaschine, sagt: „‚Wenn du mich wiedersehen willst, zieh einfach das Kabel ab.‘ Eine Woche später rief mich der Vater verärgert an, weil das Gerät wieder defekt sei. Ich aber wusste, dass ich ihr gefiel.“
Sejda und Keze heiraten. Sie bringt zwei Söhne zur Welt. Es ist kein einfaches Leben, erzählt Sejda. „Wir schlugen uns so durch. Ende der 80er Jahre ging es aufwärts. Wir hatten ein eigenes Restaurant eröffnet, das gut besucht war.“ Aber dann, 1992, kam der Krieg.
Serbien greift Bosnien-Herzegowina mit 100.000 Soldaten an, belagert die Hauptstadt Sarajevo, will Teile des Landes annektieren. Die Welt der Rahmanovićs zerfällt.
Keze flieht mit der Familie in die Stadt Zenica und wird dort zur Militärpolizei eingezogen. Es gibt wenig zu essen. Tagelang verstecken sie sich vor Artillerie- und Granatbeschuss im Keller eines Hauses.
Verwandte und Freunde sterben. „Lange Zeit sah es so aus, als würden wir alle vollständig untergehen. Und wenn ich heute die Bilder vom Krieg sehe, den die Russen in der Ukraine führen, kommt vieles von damals hoch“, sagt Keze und versinkt für einen Moment tief in Gedanken.
„Es ist schwer, sich treu zu bleiben. In Zenica gab es ausländische Mudschaheddin-Kämpfer, die die bosnische Armee unterstützten und die Muslime radikalisieren wollten. Sie wollten den Frauen verbieten, kurze Röcke zu tragen.
Als Teil der Militärpolizei ist er dazwischengegangen. „Ich meine, wie hätte das ausgesehen? Ich singe Liebeslieder und sehe nur zu, wenn man den Frauen Vorschriften macht, wie sie sich zu kleiden haben?“, fragt er und schüttelt den Kopf.
Während des Krieges singt Keze für die Soldaten der bosnisch-herzegowinischen Armee, in der überwiegend Bosniaken, aber auch Serben und Kroaten dienen.
Nach dem Krieg siedelt Keze mit seiner Frau nach Zagreb um, weil er dort die Chance erhält, in einem Restaurant ein regelmäßiges Gesangsprogramm aufzubauen.
Ein regionaler Fernsehsender nimmt wöchentlich eine Show mit ihm auf. Ex-Jugoslawen, die in alle Welt geflohen sind und die Sendung via Satellit empfangen, rufen an und äußern Musikwünsche. Keze interpretiert sie.
Er erlangt einige Berühmtheit mit der Fernsehshow und zahlreichen Radioauftritten. Keze gilt als ein kultureller Vermittler zwischen Kroatien und Bosnien-Herzegowina, wird auf Hochzeiten und Geburtstagsfeiern gebucht.
Er nimmt ein Album auf, das in Serbien, Bosnien-Herzegowina, Montenegro, Kosovo und Mazedonien verkauft wird. Es scheint, als ob Kezes Karriere Fahrt aufnimmt.
Doch dann ziehen die mittlerweile erwachsenen Söhne 2014 nach Berlin, woraufhin Sejda in eine Depression stürzt.
„Irgendwie kam ich ohne meine Kinder nicht klar. Ich meine, wir haben sie immer behütet, standen Todesängste unter dem Granatbeschuss aus. Ich weiß, meine Söhne sind längst Männer geworden. Ich kann sie nicht mehr beschützen. Trotzdem will ich in ihrer Nähe sein“, sagt sie. Keze ist sehr still, wenn seine Frau spricht.
In der deutschen Hauptstadt gibt es für einen bosnischen Sänger nicht so viele Möglichkeiten, Geld mit seiner Kunst zu verdienen. Keze nimmt eine Stelle als Bauarbeiter in einer brandenburgischen Firma an.
Einige Jahre lang versucht er, die Engagements in Zagreb aufrechtzuerhalten. Jahrelang fährt er nach der Arbeit, noch in Bauarbeiterkluft, mit dem Auto die rund 1.000 Kilometer nach Zagreb. Eine 12-Stunden-Fahrt, um am Samstag auf einer Feier aufzutreten.
„Auf der Rückbank meines Autos schlief ich ein paar Stunden, wusch mich in einer Toilette, zog mich um, brachte mich in Stimmung. Wenn die Hochzeit oder der Geburtstag sonntagmorgens zu Ende waren, fuhr ich nach Berlin, um am Montag pünktlich in der Arbeit zu sein“, sagt Keze. Die Wochenendfahrten macht er nicht mehr. Zu anstrengend.
Mit einem Schutzhelm auf dem Kopf steht er ein paar Tage später vor einer Baugrube. Es regnet. Glücklich sieht er nicht aus zwischen der aufgeworfenen Erde, den Rohren und dem Schacht, der sich vor ihm auftut.
„Es arbeiten viele Bosnier und Kroaten in dieser Firma. Die Firma kann gar nicht so viele holen, wie sie braucht“, sagt er. Dann verabschiedet sich Keze und klettert in die Baugrube hinab.
Man hört, wie er singt: „Wein mit mir, herbstlicher Regen, ich habe meine Liebe verloren, doch das Leben muss weitergehen …“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen