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Die Lautstärke dämpfen

Anthropozentrische Fantasien infrage stellen: Die kolumbianische Schriftstellerin María Ospina Pizano nimmt in ihrem Debütroman die Perspektive von Tieren ein

Auch der komplexen Freundschafts- und Fürsorge­beziehung zwischen Herr und Hund widmet sich Pizano Foto: Jens Kalaene/picture alliance

Von Marielle Kreienborg

Zwei Straßenhündinnen, ein Käferweibchen, ein Stachelschweinweibchen und ein Scharlachkardinal: Die kolumbianische Schriftstellerin María Ospina Pizano stellt in ihrem Debütroman „Für kurze Zeit nur hier“ nicht menschliche Tiere in den Mittelpunkt der Erzählung: „Wer weiß schon, wie es ist, wenn man vom Schnabel eines gierigen Vogels aufgepickt wird? Rutscht die Rüstung des Käferweibchens aus den Fugen und brechen ihre Beine, oder gelangt sie, auf ihre so eigenwillige Weise strampelnd, unversehrt in den Bauch der Amsel?“

Sich jenen Lebewesen zuzuwenden, die wir für gewöhnlich nicht beachten, ausnutzen oder essen, hat der Dozentin für Hispanische Literatur den „Premio Sor Juana Inés de la Cruz“, einen der wichtigsten spanischsprachigen Literaturpreise, eingebracht. Pizano versteht ihren Roman, zu dessen parallelen, ineinander verflochtenen Storylines sie Miguel de Cervantes’ Novelle „Gespräch zwischen Cipión und Berganza, Hunden des Auferstehungshospitals“ inspirierte, als Versuch, „die Lautstärke der menschlichen Stimmen und ihrer Fantasien von Herrschaft über die Welt zu dämpfen“.

Wie ungewohnt – und deshalb wie notwendig – nicht menschliche Ro­man­prot­ago­nis­t*in­nen sind, zeigte eine Rezension im Deutschlandfunk: Das höre sich nun fast ein wenig possierlich an, lautet dort die Reaktion auf die resümierten Handlungsstränge in Pizanos Roman, gar wie ein als Erzähltext getarntes populäres Kindersachbuch. Scheinbar ist die derzeit einzige literarische Gattung, in der die Tierwelt noch offen erforscht und verhandelt werden darf, die Kinderliteratur.

Die Entscheidung der Autorin für nicht menschliche Tiere im distinguierten Romangenre birgt auch eine ethisch-politische Dimension: Es sei ihr ein Anliegen gewesen, so Pizano, die „anthropozentrische Fantasie infrage zu stellen, dass andere Lebewesen irrelevant oder minderwertig sind oder immer im Dienst menschlicher Logiken stehen müssen“.

Logiken des Profits, des Nationalstaats mit seinen Grenzen und des Privateigentums, die selbst vor dem angeblich besten Freund des Menschen nicht halt machen: Die komplexe Freundschafts-, Fürsorge- und Abhängigkeitsbeziehung zwischen Herrin und Hündin durchleuchtet die Autorin an einer Frauenfigur, die eine Straßenhündin aus einem Tierheim adoptiert und für ihre selbstlose Wohltat sowohl von ihrem Umfeld als auch von der Hündin Lob verlangt. Immer wieder löst die Weigerung der Hündin, sich in ihrer Andersartigkeit vermenschlichen zu lassen, jedoch Irritationen bei der Besitzerin aus: „Manchmal sagt sie sich, dass sie gerne auch so wäre. Auch sie würde sich gerne nicht so sehr an alles klammern. Ohne diese typischen Menschenschmerzen auf der Erde umhergehen. Auf andere Art mit dem Verlassenwerden zurechtkommen.“

Ein weiteres Tier, das den egoistischen menschlichen Wunsch, die Welt zu begrenzen, unbeeindruckt überfliegt, ist der Scharlachkardinal: „Auch wenn dem Vogel auf seiner Reise Hunger und Durst drohen, gefräßige Raubtiere und alle möglichen menschengemachten Hindernisse, quält ihn keinerlei Heimweh. Über alles Trennende setzt er sich hinweg, sorgt stattdessen aktiv für Vermischung.“ Er wolle weder jederzeit dazugehören noch sich allem entziehen. Menschen hingegen würden „aus der Klage ebendarüber“ nie herausfinden.

María Ospina Pizano: „Für kurze Zeit nur hier“. Aus dem Spanischen von Peter Kultzen. Unionsverlag, München 2025, 208 Seiten, 22 Euro

Der Scharlachkardinal inkarniert für Pizano die Feier des ewigen Wandels: „Den Unterschied zwischen Himmel und Erde verwischend, erwählt er die unterschiedlichsten Plätze der Welt als Unterschlupf. Gleichzeitig erinnern ihn seine Flügel daran, dass kein Ort für immer zum Wohnsitz taugt.“ Sie habe mit ihrem Buch, das literarische Grenzen verschiebt, erforschen wollen, wie das souveräne Leben von Wesen aussehe, die mehr seien als Menschen und „die uns von anderen Höhen und aus anderen Ontologien von Zeit und Raum betrachten“, erklärt Pizano in ihrer Dankesrede zum Premio Sor Juana Inés de la Cruz. „Wie berücksichtigen wir sie oder ignorieren wir sie? Was schulden wir ihnen? Wie erkennen wir ihre Würde als Zeugen an? Wie begegnet ihr Blick dem unseren? Und können wir ihrem Blick begegnen, ohne wegzuschauen?“

Neugierig wendet sich die Autorin, die über Erinnerung, Gewalt und Natur in der kolumbianischen Kultur geforscht hat, jenen „mehr-als-menschlichen“ Prot­ago­nis­t:in­nen zu – ein Begriff, den die amerikanische Philosophin Donna Haraway geprägt hat – ohne dabei einem imperialistischen Blick anheimzufallen. Das Gegenteil ist der Fall: Pizano stellt die Problematik, die Psychologie von Wesen „mit einer vollkommen anderen Weltanschauung als der eigenen“ nie vollständig durchdringen zu können, auf Textebene dezidiert aus: „Ihm war klar, dass er mithilfe der starken Linsen mühelos ihre Augenfarbe hätte bestimmen können – jedoch niemals, nach welchen Regeln sie ihr Leben lebten. Und auch, wenn er es keinesfalls zugegeben hätte, war er zuletzt dankbar für die Verunsicherung, die diese Körper in ihm auslösten, die keinen Schutz von ihm verlangten, im Gegenteil, sie bestanden auf ihren Geheimnissen.“

Es sei erforderlich, so die Autorin, dass die Literatur eine andere Sprache spreche als die Wissenschaft: lauschend, suchend, tastend, fernab einer Tradition, die die Überlegenheit der menschlichen Ordnung und ihrer Rationalität propagiere, da doch das Menschliche gerade im Netz von Abhängigkeiten zwischen den Arten bestehe: „Wie sonst könnten wir die Geschichte eines Landes wie Kolumbien verstehen, in dem Wälder abgeholzt werden, um sie mit Kühen zu füllen, in dem tödliche Chemikalien versprüht werden, um illegale Drogen zu produzieren und auszurotten, in dem Flüsse ausgebaggert und Leben zerstört werden, um Gold und Metalle zu gewinnen, in dem es mutige Menschen gibt, die all dies täglich in Frage stellen und sich dagegen wehren?“

Der Scharlach­kardinal inkarniert die Feier des ewigen Wandels

In „Für kurze Zeit nur hier“, das in feinsinnig-präziser Übersetzung von Peter Kultzen im Unionsverlag erschienen ist, greift die Autorin auf ein ebensolches jahrhundertealtes Netz des Nachdenkens über Natur zurück: einer lateinamerikanischen Tradition, die von Autoren wie Gabriel García Márquez oder dem kolumbianischen Kultroman „Der Strudel“ („La voragine“) über die uruguayische Autorin, Dichterin und Übersetzerin Ida Vitale mit ihrem leider nie ins Deutsche übersetzten Werk „De plantas y animales“ („Von Pflanzen und Tieren“) bis hin zum brasilianischen Schriftsteller João Guimarães Rosa reicht. In dessen Geschichte „Mein Onkel der Jaguar“ verwandelt sich ein Mann in einen Jaguar und spuckt in seinem Sprachwandel plötzlich Idiome der Indiosprache Tupi-Guarani aus.

Jedem Kapitel des Romans stehen Mottos solcher Schrift­stel­le­r:in­nen voran, die sich mit der Ausbeutung der Natur beschäftigt und ihre mehr als menschlichen Dimensionen gefeiert und verteidigt haben: die Erforschung des tierischen Blicks durch Horacio Quirogas, José María Arguedas’ Reflexionen über den indigenen bäuerlichen Andenraum, Rosario Castellanos Debütroman „Die neun Wächter“ über das rurale Mexiko und schließlich das titelgebende Gedicht des im präkolumbischen Mesoamerika des 15. Jahrhunderts herrschenden Dichters und Philosophen Nezahualcóyotl. Pizano, die zuvorderst Dozentin ist, verortet sich in dieser hybriden Tradition des Dokumentierens und Fiktionalisierens, die die Komplexität der Welt mit Worten und Taten offenlegt. Um dies zu tun, habe sie in der Fiktion nach einem „ebenso gastfreundlichen Territorium wie dem Wald“ gesucht.

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