Schreibender Kriminalist: Vom Kämpfer für Randgruppen zum Nazi
Vor 100 Jahren erschien „Mörder“, das Buch des Ex-Kriminalkommissars Gotthold Lehnerdt. Der startete in den 1930ern eine Karriere in der NSDAP.
Schon länger ist Lehnerdt nämlich zwei Mitgliedern einer Räuberbande auf den Fersen: Walter Burgass und Fritz Ellisen. Die beiden gefürchteten Ringkämpfer hatten einen Möbelhändler brutal überfallen und wurden dafür vom außerordentlichen Kriegsgericht zu je zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. Doch den beiden bleischweren Jungs ist die Flucht aus dem Stadtvogteigefängnis gelungen, noch bevor man sie ins Zuchthaus hat überführen können.
Und so kommt es in dieser Nacht in dem berüchtigten Verbrecher-Hotspot in der Motzstraße 65 zur Auseinandersetzung zwischen der Polizei und einem der Stammkunden. Es ist Fritz Ellisen, der sich zu flotter Tanzmusik wiegt, natürlich mit einer ebenso zwielichtigen Dame im Arm. Zugriff! Die Beamten stürmen die Bar, und Lehnerdt stürzt sich blitzschnell auf Ellisen.
Der Verbrecher macht daraufhin Anstalten, den Kommissar mit einem Stuhl zu erschlagen, so dass der ihn anschießt. Ellisen scheint nur leicht verletzt zu sein, der Kampf wird in der Küche fortgesetzt. Ein zweiter Schuss ertönt, und weiter geht es auf den Hof. Erst der dritte Schuss aus Lehnerdts Pistole macht den Verbrecher handlungsunfähig, mit der Kraftdroschke wird er ins nächste Krankenhaus transportiert. Lebensgefährlich verletzt ist er nicht: Immerhin kann er noch Morddrohungen gegen Lehnerdt ausstoßen, der an diesem Abend seinen wohl gefährlichsten Einsatz als Kriminalkommissar erlebt hat.
Die Festnahme macht Schlagzeilen, die Umstände werden von den Berliner Zeitungen akribisch beschrieben. Das rückt auch Kriminalkommissar Lehnerdt als Leiter des Raubdezernats in den Fokus des öffentlichen Interesses, verleiht ihm die Aura eines tollkühnen Helden, der fast übermenschliche Kräfte an den Tag gelegt hat.
Berufswunsch: Offizier
Wer ist der Mann, der diesen spektakulären Einsatz leitet und den er zudem in seinem Buch „Mörder“ im Jahr 1925 festhalten wird? Gotthold Lehnerdt wird am 15. März 1885 in Berlin geboren. Sein Vater ist preußischer Münzmeister und Hauptmann der Reserve. Auch Gotthold will Offizier werden, da ist er 19 Jahre alt. Ostern 1904 besteht er sein Abitur am Köllnischen Gymnasium und tritt als Fahnenjunker in ein Infanterie-Regiment in Neuruppin ein. Das Offiziersexamen besteht er mit „Gut“, so dass er 1907 Adjutant des Infanterieregiments wird.
Doch nur drei Jahre später macht ihm ein Sturz vom Pferd einen Strich durch die Rechnung. Die militärische Karriere ist perdu, zum Ersatz wird ihm die preußische Obrigkeit in Form des Berliner Polizeipräsidiums. Am 1. November 1910 tritt Lehnerdt als Kriminalanwärter und „beurlaubter Offizier“ seinen Dienst an, im Mai 1912 besteht er das Examen als Kriminalkommissar mit „sehr gut“. Am 28. Juli 1914 beginnt der Erste Weltkrieg. Nichts wird mehr so sein wie früher. Lehnerdt, der eigentlich für „feld- und garnisonsuntauglich“ erklärt worden ist, meldet sich trotz angeschlagener Gesundheit freiwillig ins Feld.
Nach der Novemberrevolution und dem Ende der Monarchie am 9. November 1918 kehrt er wieder in den Kriminaldienst zurück und spezialisiert sich auf Raub und Raubmord. Es wird seine große Zeit, die jedoch nicht von langer Dauer ist.
Spektakuläre Fälle halten die Bevölkerung in Atem. Lehnerdt löst sie alle. Unter anderem der grausame Muttermord in der Kreuzberger Brandenburgstraße, wo ein 22-Jähriger seine Mutter aus Habgier ermordet und dann verbrennt, um die Tat zu vertuschen, prägt sich im kollektiven Gedächtnis ein. Aber auch die Verhaftung des Raubmörders Anton Ludwig wird von der Presse sensationalisiert. In einer Zeit, in der der Name des ermittelnden Kommissars in jedem Bericht über einen Kriminalfall auftauchte, wird Lehnerdt stadtbekannt.
Das Jahr 1921 markiert einen weiteren großen Wendepunkt in seinem Leben. Lehnerdt quittiert den Dienst im Polizeipräsidium und verliert jegliche Pensionsansprüche. Über die genauen Gründe schweigt er sich aus, er deutet lediglich einen „schweren Zusammenstoß mit dem Preußischen Innenminister“ an. Ob der Streit politischer Natur war oder die Konsequenz einer beruflichen Verfehlung – mindestens zwei Mal wird Lehnerdt „Amtsanmaßung“ vorgeworfen –, bleibt offen.
In der Folge macht sich Lehnerdt als Schriftsteller und Kriminalist selbstständig. Mittlerweile hat er geheiratet, mit seiner Ehefrau und einem Sohn, der ebenfalls Gotthold heißt, lebt er am Ku’damm. Zunächst scheinen die Geschäfte gut zu laufen, er zehrt von seinem guten Ruf als Kriminalist. Nach dem Mord am liberalen Außenminister Walther Rathenau, der am 24. Juni 1922 in Grunewald auf der Fahrt ins Auswärtige Amt von Angehörigen der Organisation Consul erschossen wird, ist er einer der Grabredner.
Zu dieser Zeit ist Lehnerdt ohne politische Zugehörigkeit, sympathisiert aber mit der Deutschen Demokratischen Partei, deren Mitgründer Rathenau war. Lehnerdt lebt in einer Zeit, in der der demokratische Zeitgeist immer öfters einen neuen Blick auf „den Verbrecher“ fordert, vor allem vor Gericht: Er soll als Summe seiner Veranlagungen gesehen werden, aber vor allem als Mensch, dem man eine Läuterung zugesteht. „Niemals grundsätzlich und urteilslos den Verbrecher verdammen“, schrieb Lehnerdt daher 1925 auch im Vorwort zu seinem Buch „Mörder“.
Zu dieser Zeit sympathisiert Lehnerdt auch ganz offen mit gesellschaftlichen Außenseitern. Er will Randgruppen wie Schwule und Prostituierte entkriminalisieren, dazu hält er einige öffentliche Vorträge, auch gemeinsam mit dem Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld in dessen Berliner Institut. Ebenso verfasst er einen Text für das von Ludwig Levy-Lenz 1926 herausgegebene Buch „Sexual-Katastrophen“, in dem er seine Beobachtungen über die Prostitution mitteilt. Er verurteilt die Kuppler und Zuhälter aufs Schärfste und fordert Mitleid für die Prostituierten.
Bis 1927 verdient Lehnerdt seinen Lebensunterhalt vor allem mit dem Schreiben von Fachartikeln über Kriminalistik sowie weitere schriftstellerische Arbeiten. Danach schwenkt er auf die Bekämpfung des Versicherungsschwindels um.
Als Reichspräsident Paul von Hindenburg 1933 Adolf Hitler zum Reichskanzler ernennt, gibt es den Lehnerdt, der sich als Kämpfer für geächtete Randgruppen sieht, nicht mehr. Die „Sexual-Katastrophen“ werden bald verboten, zudem wird im Februar Lehnerdts Buch über den „Fall Meußdoerffer“ auf Anordnung des Reichspräsidenten „zum Schutz des deutschen Volkes“ im Freistaat Preußen beschlagnahmt und eingezogen.
Ein Posten im „Gau Berlin“
Am 1. Mai 1933 tritt Lehnerdt in die NSDAP ein, vier Jahre später ist er zum Politischen Leiter der Ortsgruppe Sybelstraße in der NS-Verwaltungseinheit „Gau Berlin“ aufgestiegen. Gleichzeitig ist die Revitalisierung seiner schriftstellerischen Karriere zum Greifen nahe, doch dann bremst ihn eine schwere Krankheit aus. Sie zerstört seinen Traum, unter dem Nazi-Regime ein erfolgreicher Schriftsteller zu werden, den er sich nicht zuletzt durch seinen Gesinnungswechsel erkauft hat.
Am 21. Februar 1941 wendet sich die „Reichsschrifttumskammer“ an das Einwohnermeldeamt am Alexanderplatz, um die neue Anschrift ihres Mitglieds Gotthold Lehnerdt zu erhalten, nachdem ein an ihn adressierter Brief nicht zugestellt werden konnte. Doch das Amt kann nur noch den Tod Lehnerdts mitteilen: Bereits am 13. August 1940 ist er im Reservelazarett 111 in Tempelhof an den Folgen der Basedowschen Krankheit verstorben – eine Autoimmunerkrankung, die in schweren Fällen zu einer tödlichen Schildrüsenhormonvergiftung führt.
In Berlin findet der Tod Lehnerdts keine große Beachtung mehr. Novellen wie „Unterwegs. Abenteuer aus der Großstadt“ und „Die Brüder von St. Johann“, die er bereits geschrieben hat und die von einem Verlag angekündigt worden sind, bleiben unveröffentlicht. Seine politische 180-Grad-Wendung hat ihm nichts genutzt. Erfolgreich werden jetzt andere.
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