: Ersoffen in Bedeutung
Am Theater Bremen inszeniert Ruth Mensah den Roman „Der Keim“ von Tarjei Vesaas. Das ist schön anzuschauen – und ein bisschen zu clever für den Abgrund, der sich darin auftut

Von Jan-Paul Koopmann
Da kommt einer auf die Insel, um hier „Stille und Frieden und Grün“ zu finden. Stattdessen bringt er ein junges Mädchen um. Warum, das weiß man nicht – nur dass der Mann nicht bei Sinnen ist, ähnlich wie der Mob, der auf Menschenjagd geht, um die Tote zu rächen. Das ist Ausgangspunkt, Kern und eigentlich auch fast schon der gesamte Inhalt von „Der Keim“, wie das Stück nun am Theater Bremen zu sehen ist. Denn statt einer Geschichte stehen hier Zustände im Mittelpunkt, gesellschaftliche und seelische, was in kürzester Zeit in eins fällt. Und vielleicht auch darum dann bald ganz auseinander.
Ruth Mensah hat den Roman des Norwegers Tarjei Vesaas erstmals in deutscher Sprache auf die Bühne gebracht. Neu ist der Stoff allerdings nicht, auch wenn vor etwa zwei Jahren Hinrich Schmidt-Henkels Neuübersetzung auch dieses Romans für gewisses Aufsehen sorgte. Tatsächlich ist der in Norwegen sehr bekannte Text des in Norwegen sehr bekannten Autors bereits 1940 erschienen – und in Deutschland eher vergessen worden, als unbemerkt geblieben. So lag unter dem Titel „Nachtwache“ hierzulande bereits Mitte der 1960er eine Übersetzung vor.
In Bremen wirkt die Geschichte jetzt aber ohnehin recht zeitlos. Shayenne Di Martinos Kostüme sind grob, filzig und braun, mit einem eher unbestimmt folkloristischen Einschlag. Sie springen einem bereits im Foyer ins Auge. Denn hier beginnt das Stück im Direktkontakt mit dem eintrudelnden Publikum: als Geplauder über die Ernte, aber auch zunehmend besorgteres Umhören nach der verschwundenen Inga.
Das ist kein bloßer Gag zur Aktivierung der Zuschauenden, sondern wohl auch gleich ein erster Versuch, die Sache mit der Zeug:innenschaft aufs Tableau zu bringen. Darum geht es nämlich ganz zentral in diesem Text. Wer hat wobei (nur) zugesehen, und was tut das eigentlich zur (zu welcher) Sache? Das mag arg abstrakt klingen, aber darauf muss man sich bei „Der Keim“ ohnehin einstellen. Die Konstruktion kommt nämlich wirklich wie aus dem Ethik-Seminar daher, gemalt in biblischen Farben: Weil der Sohn die Tochter rächt, geht er Vater und Mutter gleich mit verloren. Und das nicht nur, weil er dafür wahrscheinlich einige Jahre ins Gefängnis muss, sondern viel mehr noch wegen der Schuld, die er auf sich geladen hat und für die er laut Vater büßen müsse, bevor man auch nur ernsthaft nachdenken könne über Verständnis oder Vergebung oder so.
Weitere Vorstellungen: Mi, 30. 4.; So, 11. 5.; Do, 19. 6. und Fr, 27. 6., Theater Bremen, Kleines Haus
Präsentiert wird die Gemengelage in einer schweren Sprache, im Sinne von gewichtig, die in der Dramatisierung mitunter hölzerner wirkt als in der Vorlage. Auch in Sachen Schauspiel tritt die Besetzung vor allem durch präzise Arbeit an der Distanz – zueinander und zum eigenen Selbst – in Erscheinung. Wirklich lebendig wird es nur kurz und das ausgerechnet in den finstersten Momenten. Wenn Irene Kleinschmidt als Kind über die Insel geistert wie eine Schicksalsgöttin ohne neue Nachrichten, da schaudert es einen schon. Oder wenn Alexander Swoboda als trauernder Vater nach fast zwei Stunden schließlich doch am Totenbett der Tochter zusammensackt, dann nimmer er einen schon mit. Also nach unten.
Die Tote selbst hängt hier übrigens als abgesägter Ast im Raum, mit offenbar trotzdem frischen Knospen dran. Das ist ein schönes Bild, wie alles hier auf Yuni Hwangs toller Bühne: reduziert, exakt und bis zum Platzen aufgeladen mit Bedeutung.
Diese allegorische Dichte ist Stärke und Schwäche des Abends zugleich, weil die Konstruktion im Ganzen vielleicht doch ein bisschen zu schlau ist für die allzu menschlichen Dimensionen des Abgrunds, der sich da auftut. In diesem Sinne besonders clever, aber eben auch besonders schematisch erscheint der später selbst ermordete Mörder Andreas im Spiel seiner fünf Schauspieler:innen. Mal erscheint er vermeintlich intakt als Einzelperson, dann wieder gedoppelt oder mit den flüsternden Stimmen der anderen im Nacken. Ein seichter Gruseleffekt, der vor allem aber klärt: Der Verrückte ist nicht allein in seinem Kopf, und gleichzeitig sind eben auch fast alle anderen der Verrückte.

Das ganze Stück ist so, ein interessantes Puzzle oder Rätsel – das aber sonderbar kühl und folgenlos bleibt, was die Empfindung angeht. Eben weil all die zarten Kunstgriffe und kleinen Klugheiten aus vollem Hals nach Bedeutung und Allegorie schreien.
Einen Versuch gibt es immerhin, die erstarrte Konstruktion doch noch ins Offene zu wenden, genauer gesagt in Choreografie. Gerade wenn die Ration versagt, versetzt die aus der Tanzsparte des Theater ausgeliehene Waithera Lenahreyeck die Figuren in Bewegung. Als Mob eben, oder auch als ziellos ums Selbst kreisende Einzelschicksal. Und das ist, wie auch alles hier, zwar schön anzusehen, am Ende aber auch nur ein weiterer Code. Solche Codes aber gilt es eher zu knacken, als sie auf der Bühne zu bestaunen.
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