: Auf der Suche nach der inneren Transparenz
Die Ausstellung „Para-Moderne“ in der Bundeskunsthalle Bonn verfolgt die Wege und Irrwege der künstlerischen Moderne nach 1900, als man meinte, das Gute in der Natur zu finden
Von Oliver Tepel
Wie lebt man richtig, wann zählt man zu den Guten? – Fragen, die im 20. Jahrhundert in ungekannter Dynamik alternative Lebensstile hervorbrachten. Sie sind Thema der Ausstellung „Para-Moderne“ in der Bonner Bundeskunsthalle. Die Guten, das sind solche wie der „Nature Boy“, den im Eingangsbereich die Jazzlegende Nat King Cole besingt, ein bezaubernder Einsiedler, fern der Großstadt, rein und unverdorben von den Anmaßungen der Moderne. Desgleichen wollten auch die jungen, wohlhabenden Aussteiger, die anno 1900 den Schweizer Monte Verità besiedelten, frei sein, sich weiche, weite Kleider anlegen oder gleich ganz den Körper jener Sonne preisgeben, deren heilende Kraft um die Jahrhundertwende beschworen wurde. Natur statt Maschine, das ist das Credo der Reformbewegungen, die in Bonn unter dem Titel „Para-Moderne“ subsumiert werden.
Dabei wirkt der erste, von Tischvitrinen zergliederte Raum sachlich kühl. An seinen Wänden viele Fotos: unbekleidete, befreit Springende und bärtige, langhaarige Männer in Kutten. In einem gescreenten Ausschnitt von Carl Javérs Film-Doku „Freak Out“ (2014) über die Szene am Monte Verità, berichtet die 1926 in São Paulo verstorbene Mitgründerin Ida Hofmann aus dem Jenseits, davon, wie aktuell ihre Gründe, der Gesellschaft um 1900 den Rücken zu kehren, auch heute sind: Kapitalismus, Globalisierung, Konsumismus. Und was suchte man? Neue Formen des Zusammenlebens, Nähe zur Natur, Erweiterung des Bewusstseins.
In einer Vitrine deuten Nietzsche-Devotionalien, etwa die kuriose Miniatur seiner Lebendmaske, darauf hin, dass den Suchenden just Gott abhanden gekommen war. Akribisch dokumentiert die Ausstellung neue Sinngestaltung, mal entlang der wissenschaftlichen Moderne, häufiger diese unwissenschaftlich interpretierend und noch häufiger auf esoterischen Pfaden. Man trifft in Bildern auf Mary Wegman, die den Tanz revolutioniert, und auf Käthe Kruse, repräsentiert durch ein expressionistisches Selbstporträt und den Ur-Entwurf ihrer zum Umarmen gemachten Puppen. Ja, fühlen, erleben! Vom Gärtner Hermann Hesse sieht man den luftigen Arbeitsanzug. Ob avantgardistische Künstler wie Wassily Kandinsky oder Männer in Jesus-Pose, wie der dichtende Maler Gusto Gräser: Charismatiker sind die prägenden Figuren der Para-Moderne bis hin zu Joseph Beuys, der auch in der Ausstellung auftaucht.
Massive und kleinere Wände gliedern den Raum wie ein Rückgrat mit Rippen. Ohnehin geht es unentwegt in dieser Schau um den menschlichen Körper. In ätherischer Anmut hält die lebensgroße Frauenfigur von Gustav Klimts selten verliehener „Nudas Veritas“ mit ihren in ferne Welten blickenden Türkisaugen dem Betrachter einen Spiegel vor: Sieh dich selbst! Seltsam unvermittelt wirken dazwischen aktuelle Kunstwerke wie Goshka Macugas Figur der Gründerin der Theosophischen Gesellschaft „Madame Blavatsky“ (2007), die in ein violettes Samtkleid gehüllt, in Trance auf den Lehnen zweier Stühle schwebt. In der Vielzahl der Exponate verliert sich die Kunst, wird zur Illustration inhaltlicher Thesen, die zugleich auch nie so recht auf den Punkt kommen können.
Fast übersieht man das intensive Farbenspiel der wolkengleichen Abstraktionen auf František Kupkas Malerei um 1920. Sie zeigen seine Suche nach neuem Bewusstsein. Es ist möglich, sich in der Ausstellung zu verlieren, und dieser Eindruck korrespondiert sehr gut mit dem suchenden Glauben, der die Para-Moderne auf den ersten Blick von der skeptisch-wissenschaftlichen Moderne unterscheidet. Wo deren Röntgenstrahlen den Körper durchleuchten, strebten die Reformer nach innerer Transparenz.
Die Künstlerinnen des 1919 gegründeten Siedlungsprojekts Loheland tanzen in ihren Fotoexperimenten schwerelos, sie gestalteten transparente Fotogramme von Pflanzen, die ebenso wie ihre Kostüme und geometrisch strukturierten Wandteppiche auch heutigen Kunst-Hipsterblicken schmeicheln. Eine Ruhe vor dem Sturm.
Im nebenan liegenden Raum trifft man auf das Antlitz des entsetzlichsten aller Charismatiker – Hitler. Wo der Nationalsozialismus viele jener Reformentwicklungen unterdrückte, baute er zugleich auf den Ballast ihrer wabernden Welterklärungen. Nicht selten, wie etwa bei Rudolf Steiner, sind es elitäre und antisemitische Ideen. In der von ihm entworfenen, monochrom gelben farbtherapeutischen Hohlkugel will sich dann auch kein Wohlbefinden einstellen. Bereits 1906 schwärmte Monte Verità-Mitgründerin Ida Hofmann vom „Kulturmenschen im Sinne der Zuchtwahl“. Wer also sind noch gleich die Guten?

In Sophie Nys’begehbarer Installation „Die Hütte“ (2007), einem auf 88 Prozent verkleinerten Nachbau des Holzhauses, in dem Martin Heidegger schrieb, hören wir Thomas Bernhards Abrechnung mit dem Philosophen aus „Alte Meister“: „Dieses nichts ist ohne Grund, ist das Lächerlichste […] Aber den Deutschen imponiert das Gehabe.“ Auf seltsame Weise geleiten diese Worte zur augenfälligsten These der Ausstellung: Jedes Revival des Monte Verità erwähnt seit den 1970ern die nicht nur äußerliche Nähe seiner Aussteiger zu den kalifornischen Hippies. Tatsächlich zog es einst einige der Heilung suchenden Sonnenanbeter, Welten-Reformer und Lebenskünstler an die goldene Küste, wo ihr Tun Aufsehen erregte und Spuren hinterließ.
Ab hier folgt die Schau inhaltlich der in Los Angeles lebenden Autorin Lyra Kilston in ihrem 2019 erschienenem Buch „Sun Seekers“, Kilston trug auch ein Kapitel zum Ausstellungskatalog bei. Man blickt auf Bilder moderner Glasarchitektur in Kalifornien und lernt, dass ihre bürgerliche Eleganz dieselben Bedürfnisse bedient wie der schräge Fitnessfanatiker und Proto-Hippie Gypsy Boots, den man in Groucho Marx’TV-Show herumkaspern sieht. Man begegnet in Fotos Eden Ahbez, Rennrad fahrender Eremit im Jesuslook, der in den 1940ern jenes Lied „Nature Boy“ schrieb, mit dem Nat King Cole die Ausstellung eröffnet.
Eine Wand mit Plattenhüllen zeigt, wie viele Popstars eine Version des Songs aufgenommen haben. Plakate des Jugendstils verdeutlichen ihren Einfluss auf die flirrenden Poster der Rockszene San Franciscos, von denen einige wirkliche Raritäten zu bestaunen sind. Hier finden Post-Moderne und Para-Moderne zusammen. Doch was aus US-amerikanischer Sicht eine lehrreiche Erkenntnis ist – der Einfluss der europäischen Reformbewegungen und ihrer Manien –, führt in der deutschen Perspektive zu einem Missverständnis.
Auch wenn einstige Rockfans versonnen Janis Joplin, Jimi Hendrix und The Who in den ausgewählten Ausschnitten des Films vom Monterey-Rock-Festival von 1967 genießen, so hatten die Hippies etwas, was Bernhard zu Recht den Deutschen absprach: Die Hippies liebten das Spiel, sie wollten nicht alles erklären, Dinge konnten ohne Grund sein und bleiben. – Dies ist ein fundamentaler Unterschied zur 68er-Bewegung, in der die Langhaarigen ebenfalls auf die Esoterik ihrer Lookalikes in den Reformbewegungen rekurrierten. Längst ist vieles davon in der Mitte der Gesellschaft angekommen, mal bereichernd, mal auch nach 125 Jahren noch gefährlich irrlichternd, doch stets verleiht es Gewissheit, zu den Guten zu gehören.
„Para-Moderne. Lebensreformen ab 1900“, Bundeskunsthalle Bonn, bis 10. August. Katalog (Hatje Cantz): 48 Euro
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