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Recht haben oder Recht missbrauchen?

Die EU-Kommission hat das Problem rechtsmissbräuchlicher Einschüchterungsklagen (Slapps) gegen Jour­na­lis­t*in­nen erkannt. Jetzt ist die Bundesregierung am Zug

Von Ilja Braun

Wie arbeiten russische Geheimdienste? Darum geht es in dem Buch „The Compatriots“ des im Exil lebenden russischen Investigativ­journalisten Andrej Soldatow. Seit Oktober 2023 darf die E-Book-Ausgabe dieses Buches in Deutschland allerdings nicht mehr vertrieben werden. Obwohl es bereits 2019 veröffentlicht wurde, hatte ein dafür interviewter russischer Geschäftsmann im August 2023, also vier Jahre später, darin ­falsche Aussagen über sich entdeckt und die Veröffentlichung durch eine einstweilige Verfügung sperren lassen. So etwas ist aber nur möglich, wenn der Betroffene gravierende Nachteile erleiden würde, falls nicht sofort etwas geschieht.

Warum aber soll es vier Jahre nach Veröffentlichung plötzlich so dringlich sein? Und wie glaubhaft ist es, wenn jemand versichert, er habe Falschaussagen über sich selbst erst so spät zur Kenntnis genommen? Während das Landgericht Hamburg dem Antrag stattgab, hatte Soldatow vor dem Oberlandesgericht Hamburg 2024 schließlich Erfolg.

Zu Ende war der Konflikt damit noch nicht. In einem ­parallelen Hauptsacheverfahren einigten sich beide Seiten auf einen außergerichtlichen Vergleich. Soldatow muss jetzt sachliche Fehler in seinem Text korrigieren, beide Seiten tragen ihre Anwaltskosten selbst. Damit sind allerdings auch die weiterreichenden Forderungen des Geschäftsmanns vom Tisch, der noch eine Geldentschädigung im fünfstelligen Bereich sowie Schadenersatz geltend machen wollte.

Die juristischen Details sind kompliziert. Auffällig ist aber: Eine Streitigkeit über einzelne Falschaussagen in einem Sachbuch, die ohne größeren Aufwand hätten korrigiert werden können, kann nicht nur zu einem Vertriebsverbot führen, sondern auch zu exorbitanten Schadenersatz- und Entschädigungsforderungen und hohen Anwaltskosten. Nicht zuletzt auch zu einem aufwändigen Prozess mit ungewissem Ausgang, der die Betroffenen über Jahre in Beschlag nimmt.

Selbst schuld, weil in dem Buch tatsächlich falsche Aussagen gemacht wurden? Oder trotzdem unverhältnismäßig und ein Missbrauch juristischer Mittel seitens des Klägers? Das sind genau die Fragen, die sich typischerweise bei solchen Auseinandersetzungen stellen. Selten ist eine Seite komplett im Recht, die andere zu 100 Prozent im Unrecht. Und auch bei David-gegen-Goliath-Auseinan­dersetzungen kann sich am Ende herausstellen, dass eher Goliath recht hatte. Wahr ist aber auch: Goliath hat meist viel mehr Geld, kann sich die besseren Ju­ris­t*in­nen leisten und damit eine öffentliche Auseinandersetzung auch dort verhindern, wo er nicht im Recht ist.

Slapps gefährden die Meinungsfreiheit

Strategic Lawsuits Against Public Participation (Slapp) heißt wörtlich „strategische Klagen gegen öffentliche Beteiligung“. Slap ist zugleich englisch für ohrfeigen, schlagen, wobei Slapp missbräuchliche rechtliche Schritte meint, die kritische Stimmen einschüchtern und von unerwünschter Berichterstattung abschrecken sollen. Das reicht von Abmahnungen bis hin zu teuren, zeitaufwändigen und nervenaufreibenden Gerichtsverfahren: Unternehmen, ressourcenstarke Einzelpersonen sowie unethisch handelnde politische Akteure setzen so juristische Mittel missbräuchlich zur Abschreckung kritischer Öffentlichkeit ein. Slapps häufen sich in ganz Europa und stellen eine Bedrohung insbesondere für den unabhängigen Journalismus dar, zielen aber auch auf Aktivisten.

So versuchen immer öfter Unternehmen oder wohlhabende Einzelpersonen, mit juristischen Mitteln gegen unliebsame Veröffentlichungen vorzugehen. Oft liegt dabei der Verdacht nahe, dass es im Kern darum geht, Berichterstattung zu behindern und/oder die Au­to­r*in­nen zu diskreditieren. Das Kernproblem: Auseinandersetzungen, die Teil eines offenen und öffentlichen Diskurses sein sollten, werden immer öfter in Gerichtssäle verlagert.

Gerade Frei­be­ruf­le­r*in­nen und zivilgesellschaftlich aktive Privatpersonen können sich teure Anwälte oft nicht leisten und knicken lieber ein, wenn die ersten Anwaltsschreiben im Briefkasten landen. Genau das ist oft beabsichtigt. Die Aussicht, in einen sogenannten Slapp (siehe Kasten) verwickelt zu werden, soll abschrecken. Dabei geht es den Klägern nicht in erster Linie darum, vor Gericht recht zu bekommen, sondern sie versuchen, die Gegenseite in langwierige, teure und nervenaufreibende Gerichtsprozesse zu verwickeln.

In der gesamten Europäischen Union wurden zwischen 2010 und 2023 insgesamt 1.049 Slapp-Klagen auf den Weg gebracht, davon 166 im Jahr 2023. Die Zahl stammt aus dem Jahresbericht 2024 von Case, einer europäischen Anti-Slapp-NGO. Mit 135 Fällen ist Polen Spitzenreiter vor Malta (91) und Frankreich (90). Gezählt wurden dort aber nur richtige Klagen. Die Dunkelziffer anwaltlicher „Drohbriefe“, missbräuchlicher Abmahnungen und ähnlicher Einschüchterungsversuche, nach denen es oft gar nicht mehr zum Prozess kommt, dürfte noch viel höher sein.

Die Europäische Kommission erkannte das Problem und verabschiedete am 11. April 2024 eine Richtlinie, die Slapp-Betroffene besser schützen soll. Gerichte sollen offenkundig rechtsmissbräuchliche Klagen frühzeitig abweisen und Klägern die Verfahrenskosten sowie Schadenersatzzahlungen aufbürden können. Die Mitgliedsstaaten haben noch bis Mai 2026 Zeit, die Vorgaben in nationales Recht umzusetzen.

Doch die EU hat nur begrenzte Kompetenzen. Deshalb gelten die Schutzmaßnahmen, die mit der Richtlinie eingeführt werden sollen, nur für grenzüberschreitende Slapp-Fälle, bei denen Kläger und Beklagte also nicht im selben Mitgliedsstaat ansässig sind. Zwar empfiehlt die EU-Kommission den Mitgliedsstaaten, für innerstaatliche Einschüchterungsklagen möglichst dasselbe Schutzniveau zu etablieren. Verbindlich vorgeben kann sie das jedoch nicht.

Immer öfter gehen Firmen oder wohlhabende Personen juristisch gegen unliebsame Berichte vor

In Deutschland ist gesetzgeberisch in Sachen Slapps noch überhaupt nichts passiert. Umso mehr tut sich auf zivilgesellschaftlicher Seite. Seit 2023 gibt es den Gegenrechtsschutz, einen Fonds, der Betroffene unterstützt, die von rechten Akteuren juristisch belangt werden. Schon seit 2020 hilft der „Prinzenfonds“ Historikern und Journalistinnen, die von Prinz Georg Friedrich von Preußen vor Gericht gezerrt werden, weil sie im Zusammenhang mit Entschädigungsforderungen der Hohenzollern für die Enteignung von Immobilien nach 1945 angeblich Falschaussagen verbreitet haben. Und 2024 haben einige zivilgesellschaftliche Organisationen, darunter die großen Journalist*innen-Verbände, eine No-Slapp-Anlaufstelle ins Leben gerufen, die Betroffene vernetzt und an spezialisierte An­wäl­t*in­nen verweist.

Doch auf die Dauer kann es nicht der Zivilgesellschaft überlassen bleiben, gegen die zunehmende Zahl an Slapps anzukämpfen. Es braucht auch gesetzlichen Schutz, der insbesondere das Kostenrisiko für Slapp-Betroffene und damit das für Slapp-Klagen typische Macht­ungleichgewicht reduziert. Dafür zu sorgen, liegt in der Verantwortung des Staats. Schließlich ist das Justizsystem, das bei solchen Klagen missbraucht wird, ein integraler Bestandteil des Rechtsstaats selbst.

Mit einem Policy Paper und einer von der taz unterstützten Kampagne hat das deutsche No-Slapp-Bündnis (dem auch der Autor dieses Textes angehört) kürzlich darauf gedrängt, dass ein Bekenntnis zu einem starken Schutz vor Einschüchterungsklagen in den neuen Koalitionsvertrag aufgenommen wird. Mit Erfolg: Es steht jetzt drin, dass die EU-Slapp-Richtlinie „zeitnah“ in deutsches Recht umgesetzt werden soll, „um zu verhindern, dass unser Rechtsstaat und unsere Justiz zur Einschüchterung, zum Beispiel von Journalisten sowie zivilgesellschaftlich Engagierten, missbraucht werden“. Bis spätestens 2026 steht die Umsetzung der Richtlinie sowieso an. Die Frage ist, ob die neue Regierung sich dabei auf den EU-Mindeststandard beschränken will. Oder ob die Schutzmaßnahmen, die künftig für grenzüberschreitende Slapps gelten werden, auch für Verfahren gelten, bei denen Kläger und Beklagte beide in Deutschland ansässig sind.

Ilja Braun ist freier Journalist mit Schwerpunkt Medienpolitik. Bis Januar 2024 arbeitete er bei Reporter ohne Grenzen zum Thema Slapp.

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