Notaufnahmelager Berlin-Marienfelde: Geschichten vom Gehen und Bleiben
Eine neue Audiotour in der Erinnerungsstätte des ehemaligen DDR-Notaufnahmelagers Marienfelde verknüpft historische und aktuelle Fluchterfahrungen.

Die neue Tour „Flucht nach Deutschland“ durch die Dauerausstellung der Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde verbindet Fluchtgeschichten aus der DDR – wie die von Seiring, dessen Koffer in der Schau zu sehen ist – mit aktuellen Erfahrungen von Geflüchteten in Deutschland. Es gibt 13 Hörstationen, zusätzliche Exponate sowie Videos von Protagonist*innen. „Die gewanderten Menschen damals und heute verdienen unsere Aufmerksamkeit und Unterstützung“, erklärte Museumsleiterin Bettina Effner bei der feierlichen Eröffnung am vergangenen Samstag.
„Die Erinnerungsstätte ist ein besonderer Ort der Migration, wo Besuchende einer Vielfalt von Fluchtgeschichten aus Vergangenheit und Gegenwart begegnen können“, sagt Pia Eiringhaus zur taz. Sie ist eine von zwei Kuratorinnen der Stiftung Berliner Mauer, die die Erinnerungsstätte betreibt. Ende 2023 haben sie begonnen, die neue Tour als „Ausstellungsintervention“ zu konzipieren. Das Drehbuch wurde mit neun Betroffenen und Aktivist*innen erarbeitet.
Die Intervention ist laut Eiringhaus ein Versuch, das Notaufnahmelager und die deutsch-deutschen Fluchtgeschichten stärker mit Erfahrungen der Gegenwart zu verbinden und die zahlreichen Facetten der heutigen diversen Gesellschaft einzubeziehen: „Nun finden auch Menschen mit Fluchterfahrung aus anderen Kontinenten, die Diskriminierung und Rassismus erfahren haben, ihren Platz. Sie haben selbst die Tour mitgestaltet und erhalten eine Möglichkeit zur kulturellen Teilhabe.“
Nach wie vor Übergangswohnheim auf dem Gelände
Das denkmalgeschützte ehemalige Notaufnahmelager Marienfelde im Süden von Berlin ist seit seiner Einrichtung im Jahr 1953 stummer Zeuge der Geschichten von Flucht und Ankommen – wie auch der im Gründungsjahr gepflanzte Baum vor dem Eingang, unter dessen Krone unzählige Menschen gelacht, geweint oder gebangt haben.
Noch immer gibt es auf dem Gelände ein Übergangswohnheim für Geflüchtete. „Wir wollten diese Erfahrungen miteinander in Bezug setzen“, so Eiringhaus. Mittlerweile wurde das Museum mehr für die Nachbarschaft und die Berliner Gesellschaft geöffnet; Menschen mit Fluchtgeschichte wurden ermutigt, an Angeboten wie dem Sprachcafé oder an Tandem-Führungen teilzunehmen.
Silin Abdula, Sprecherin der Audiotour
„Es ist nicht leicht, seiner eigenen Heimat den Rücken zu kehren und Freunde und Familie hinter sich zu lassen“, sagt Silin Abdula. Sie ist eine von drei Sprecher*innen, die durch die Audiotour führen und sich auch in Videoclips vorstellen. „Im Wohnheim leben heute rund 750 Menschen, die aus Krisengebieten weltweit geflohen sind. Ich bin auch eine von ihnen“, so die 16-jährige Syrerin, die seit zehn Jahren in der Unterkunft lebt.
„Die Erinnerungsstätte ist mein zweites Zuhause“, erzählt Abdula im Video. „Ich habe hier fast mein ganzes Leben verbracht, viele Freunde hier gefunden“, sagt sie in der Audiostation im Themenraum „Alltag“.
Gemeinschaftsgärten als heilende Komponente
Dort steht am Tag der Eröffnung Anuscheh Amir-Khalili. Sie ist Teil der Gruppe, die den neuen Rundgang erstellt hat. Außerdem hat Amir-Khalili im Übergangswohnheim ein Gartenprojekt mit aufgebaut. „Gemeinschaftsgärten haben eine heilende Komponente“, sagt sie. „Mit den Händen in der Erde sein, erinnern, riechen, darüber ins Gespräch kommen. Durchs Gärtnern kann man in Austausch kommen, du bist draußen, du kannst frei atmen und kommst auf andere Gedanken.“ Eine Kollegin ergänzt, dass Gemeinschaftsgärten im Zusammenhang von Migration und Flucht „eine wichtige Verbindung zwischen Herkunftsland und Ankunftsland herstellen“.

Noor Hammood kam 2015 nach Deutschland. „Ich kannte damals nur das Wort ‚Dankeschön‘“, sagt der Iraker heute. Und: „Es gab für mich keinen anderen Ausweg, als zu gehen.“ Doch diese Entscheidung zu treffen, sei schwer: „Sie macht Angst und erfordert viel Mut. Das war für Menschen aus der DDR so und ist auch heute noch so“, erklärt Hammood, der als Historiker arbeitet und ebenfalls ein Sprecher der neuen Audiotour ist.
Doch die Unterschiede zwischen damals und heute liegen auf der Hand. Die DDR-Bürger*innen galten als Deutsche, sie waren nie von Abschiebung bedroht. Gleiches galt später größtenteils für die Aussiedler*innen aus der ehemaligen Sowjetunion. Heute werden Grenzen verstärkt, um Menschen nicht hereinzulassen. „In dem Moment, in dem eine Grenze geschlossen wird, verringert sich nicht die Not der Menschen, nur ihre Flucht wird gefährlicher“, heißt es dazu in der Audiotour. „Nicht die Flucht gefährdet Menschenleben, sondern die Umstände, unter denen sie fliehen. Damals wie heute.“
Die Begriffe Flucht und Vertreibung standen im Nachkriegsdeutschland lange Zeit für etwas, das den Deutschen selbst passiert ist – und deshalb Anteilnahme verdient. Im Jahr 2015, als viele Geflüchtete nach Deutschland kamen, begründeten gerade ältere Menschen in Deutschland damit ihr Wohlwollen gegenüber den Schutzsuchenden. Heute ist davon kaum noch etwas zu hören, höchstens noch im Zusammenhang mit Geflüchteten aus der Ukraine. Stattdessen werden Schutzsuchende stigmatisiert und ausgegrenzt, es ist die Rede vom vermeintlichen „Asylmissbrauch“.
Warum Menschen fliehen und fliehen müssen – darum geht es in der Audiostation „Gründe“ der neuen Tour. Das Wort „Fluchtgründe“ klinge zu allgemein, ist dort zu hören, vorgeschlagen wird stattdessen von „Gründen zu gehen“ zu sprechen: „Als Flüchtling bezeichnet, fühlen sich Menschen oft reduziert und abgewertet.“ Auch zahlreiche Menschen aus der DDR hätten den Begriff abgelehnt: „Sie wollten frei sein, aber kein Flüchtling.“
Verlust von Familie, von Geschwistern, von Heimat
Auch Atefa Waseq wollte, dass ihre vier Töchter frei und sicher aufwachsen können. Sie kam 2016 mit ihren Kindern aus Afghanistan nach Marienfelde: „Ich habe in Afghanistan als Dozentin an einer Privatuniversität gearbeitet und fast fünf Jahre mit der Bundeswehr in Masar-e Scharif“, erzählt sie der taz. „Aber leider wurde Ende 2015 die Sicherheitslage immer schlimmer und da ich vier Mädels habe, hatte ich große Angst, wie sie später in Afghanistan aufwachsen.“
Sie entschied sich, ihre Karriere aufzugeben, um ihren Töchtern ein besseres Leben zu ermöglichen. „Dieser Verlust von Familie, von Geschwistern, von Heimat, das ist nicht so leicht. Aber trotzdem habe ich nie aufgegeben“, sagt Waseq. Inzwischen arbeitet sie als ehrenamtliche Sprachmittlerin und als mobile Sozialpädagogin an Schulen. „Dieses Museum hat für mich einen neuen Weg eröffnet“, schwärmt sie. „Immer wenn ich hierherkomme, denke ich, ich bin zu Hause. Ich fühle mich dann nicht mehr heimatlos.“
Damals und heute bedeutet Flucht für die Schutzsuchenden, eine schwere Entscheidung zu treffen und die Gefahren der Migrationsreise in Kauf zu nehmen. Diese und weitere Gemeinsamkeiten stellt der neue digitale Rundgang in den Vordergrund – und kann so „Empathie und Sensibilität für das menschliche Miteinander“ stärken, wie Kuratorin Pia Eiringhaus hofft.
„Mit Blick auf den aktuellen Diskurs kann das dabei helfen, Migrationen nicht als Ausnahmephänomen, sondern als festen Bestandteil historischer Entwicklungen zu verstehen“, sagt Eiringhaus. Für sie steht die Stärkung der Entscheidung des Individuums im Vordergrund. „Dieser Aspekt kommt beim Reden über Flucht, Migrationen und Asyl oft zu kurz.“
Wunsch nach einem besseren Leben
Zur Einweihung der Tour wird dann noch ein Remake des Musikvideos „A New Home“ der Kölner Band Bukahara präsentiert: „I leave this dirty place/ To find myself a new home/ And if anybody wants to know/ Where I am/ Tell him/ I’m gone to find myself/ A new home.“ Der Clip wurde in der Erinnerungsstätte gedreht, mit Geflüchteten, Mitarbeitenden des Sprachcafés und DDR-Zeitzeug*innen, die nach 1953 in Marienfelde angekommen sind. Auch Wilfried Seiring ist dabei.
Der Wunsch nach einem besseren Leben und einer besseren Zukunft – das ist wohl das, was alle Menschen miteinander verbindet, die in den vergangenen mehr als 70 Jahren in Marienfelde angekommen sind. „Migration und Flucht sind ein großer Teil von Deutschland“, sagte Atefa Waseq zum Abschied. „Davor kann niemand die Augen verschließen.“
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