berliner szenen: Semantische Sättigung
Ruu-la“, sagt Anouk. „Ru-co-la“, sagt Cedric. „Ruuu-la.“ „Ru-co-la.“ „Ruu-ug-la!“
Ich sitze mit Anouk und Cedric im Fellini in der Langhansstraße. Cedric pickt mit seiner Gabel ein weiteres Rucolablatt von seiner Pizza und hält es Anouk vor die Nase. „Ru-co-la.“ „Ruuu-guu-la.“
Ich sehe zwischen den beiden hin und her wie bei einem Tennismatch. Links, rechts, links, rechts. Und dann steige ich mit ein. „Rucola“, sage ich. „Rucola. Rucola. Ruu-Cola. Ruuhr-Cola. Ru-uhr-Co-la.“ Meiner Zunge ist ein wenig schwindlig. Anouk und Cedric sehen mich an. „Je öfter man das ausspricht, um so mehr zerfasert die Bedeutung“, stelle ich fest.
„Semantische Sättigung“, sagt Cedric. „Semantische was?“ „Semantische Sättigung. Wenn man ein Wort so lange wiederholt, bis es seine Bedeutung verliert.“ „Ah.“ Es gibt immer wieder Dinge, von denen ich noch nie gehört habe. „Duschvorhang, Butterschale, Brokkoli, Schneeanzug, Straßenbahn, Rucola. Anouk lernt jeden Tag neue Worte“, sagt Cedric. „Und für mich verlieren jeden Tag ein paar Worte ihre Bedeutung. Ihr Wortschatz wird größer und meiner wird kleiner.“ „Kinder sind also immun gegen diesen Bedeutungsverlust?“ „Sie sind quasi unersättlich.“ Ich beuge mich über den Tisch und senke meine Stimme. „Anouk saugt dir deinen Wortschatz aus?“ Cedric nickt. „Wie eine Vampirin?“ Cedric nickt wieder. „Das klingt dramatisch.“ „Es ist dramatisch.“ „Das ist bestimmt nur vorübergehend. So wie Stilldemenz“, versuche ich ihn zu beruhigen. „Hoffentlich.“ „Stra-ba-bahn!“, ruft Anouk und patscht mit ihren Pizzahänden gegen die Scheibe. Draußen fährt eine Tram vorbei. Ich muss lächeln. Anouks gute Laune ist ansteckend. Und auch Cedric lächelt. „Wo wäre mein Wortschatz besser aufgehoben als bei ihr“, sagt er.
Daniel Klaus
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