piwik no script img

Müllo è impossibile

Wir alle produzieren zu viel Abfall. Dabei ist Kreislaufwirtschaft gar nicht so kompliziert. Zu Besuch in einer Kleinstadt in der Toskana, die beim Recycling ganz weit vorne ist

Umgeben von Ressourcen: Anna Lisa Pace im Showroom ihrer Kreislaufwirtschaftsinitiative Nanina

Aus Capannori Maximilian Seidel (Text und Fotos)

Die Lagerhalle steht voll mit Sesseln, Tischen, Schränken und anderen gebrauchten Möbeln. Auf das Wellblechdach trommelt an diesem Februartag der Regen, als ein junges Pärchen die Halle in der italienischen Kleinstadt Capannori bei Pisa betritt. Die beiden schauen sich einen Tischläufer an. „Den können Sie gleich mitnehmen, für 20 Euro ist es Ihrer“, sagt Anna Lisa Pace.

„Upcycling, da waren wir schon vor zwanzig Jahren mittendrin“, erzählt Pace. Sie ist die Präsidentin von Nanina, der sozialen Kooperative, die den Möbelladen betreibt und die in Capannori eine Kreislaufwirtschaft schafft. Die toskanische 46.000-Einwohner:innen-Gemeinde hat sich als erste europäische Stadt zur „Zero Waste City“ ernannt – und damit zum Ziel gesetzt, den Restmüll zu besiegen. Alte und kaputte Gegenstände können die Be­woh­ne­r:in­nen in einer der sechs Sammelstellen von Nanina abgeben und die Kooperative macht etwas Neues daraus.

Pro Kopf produzierten EU-Einwohner 2022 laut dem Statistischen Bundesamt 513 Kilogramm Müll. Besonders problematisch ist Restmüll. Er lässt sich nicht recyceln und muss daher komplett verbrannt werden. Über 95 Millionen Tonnen CO2 verursacht die europäische Restmüllverbrennung jährlich – nicht zuletzt durch den ständigen Überkonsum. So hat sich etwa laut Greenpeace zwischen 2000 und 2020 der jährliche Kleiderkonsum in Deutschland verdoppelt: von 50 auf 100 Milliarden Tonnen. Zwei Milliarden Textilien werden hierzulande jedes Jahr neu oder fast neu aussortiert. Aufgrund des hohen Plastikanteils landet der Großteil davon im Restmüll.

2023 gab es in Capannori nach eigenen Angaben ein Restmüllaufkommen von 59 Kilogramm pro Kopf, über 80 Prozent davon wurden recycelt. Das ist zwar noch nicht Zero Waste, aber es sind 60 Prozent weniger Restmüll als im restlichen Italien. Wie hat die Gemeinde das geschafft?

„Für uns gibt es das Wort Müll nicht“, sagt ein Koordinator von Nanina, „Das sind alles Ressourcen.“ In der Halle stehen im Moment genug Schränke, Tische und Stühle für 30 Haushalte. Im hinteren Teil der Halle gibt es eine Fahrradwerkstatt. Gerade flext ein älterer Herr ein Fahrradschloss auf. Schrotträder werden hier zu Ersatzteilen für neuere Räder. Unbrauchbare Kleider kommen in die Kleiderrecyclinganlage – oder werden in der Schneiderei zu Theaterkostümen. Die haben eine hohe Nachfrage in der Kulturszene. Brauchbare Kleider, Spielsachen und Haushaltsgegenstände verkauft Nanina im eigenen Laden. Bücher, Teller, Kleidung gibt es für wenige Euro.

Das Angebot richtet sich besonders an Bedürftige. Bretter aus kaputten Schränken, Betten und Paletten werden in der Schreinerei zu Holzkästen umgebaut, in denen Küchenabfälle kompostiert werden können. Die Komposter sind gratis und wer sie nutzt, spart Müllgebühren.

Hinter dem toskanischen Erfolg steckt noch eine zweite Initiative: Zero Waste Capannori. Ihr Gründer Rossano Ercolini betreibt ein kleines Forschungsinstitut in Capannori, ein Raum in einem Plattenbau. In einem Regal sammelt er „Müllsünden“: Windeln, Einmalrasierer, Wattestäbchen aus Plastik und Feuerzeuge – sie können nicht recycelt werden. Ercolinis Initiative empfiehlt der Kommune Capannori Maßnahmen zur Müllvermeidung. Dazu gehört ein neues Mülltrennsystem und das „Pay as you throw“-Prinzip. Man bezahlt für so viel Müll, wie man auch wegwirft. Mehr Müll bedeutet also mehr Kosten, recyceln oder spenden hingegen spart Geld. Restmüll, Sperrmüll, Elektroschrott und Kleidung sind besonders teuer. Für die Anwohner ein guter Grund, alles Brauchbare zu Nanina zu bringen.

Ercolini erzählt von der Gründung seiner Initiative: „1995 plante die Toskana, zwei neue Müllverbrennungsanlagen zu bauen – eine davon in Capannori.“ Dagegen wehrte sich der Grundschullehrer und organisierte einen großen Protest. Argumentative Schützenhilfe kam aus dem Ausland. Ein bekannter US-amerikanischer Wissenschaftler half, die Stadtverwaltung zu überzeugen. Der Bau der Verbrennungsanlagen konnte tatsächlich gestoppt werden. Aber wohin mit dem vielen Müll? Die Kommune fand eine einfache Lösung: nämlich die, Restmüll so gut es geht zu reduzieren. Zero Waste Capannori war geboren.

Mit Hilfe einer weitreichenden Informationskampagne lernten die Menschen zunächst, richtig zu recyceln. In Capannori stand, damals noch anders als im restlichen Italien, der Müll in Eimern und Säcken sortiert vor den Häusern. Später kam die „Pay as you throw“-Steuer hinzu. Bald war die kleine Stadt Europameister im Mülltrennen. Aber Ercolini wollte den Restmüll ganz abschaffen. Gemeinsam mit anderen Aktivisten begann er, Müllsäcke zu durchsuchen und die müllintensivsten Produkte zu sammeln.

Es gilt das „Pay as you throw“-Prinzip: Man bezahlt für so viel Müll, wie man wegwirft. Wer recycelt, spart also Geld

Nach der Analyse schrieb der Grundschullehrer lange Mails an die Hersteller und forderte sie auf, ihr Produkt zu überarbeiten. Seit 20 Jahren macht er das. „Sieben von zehn Firmen antworten mir normalerweise. Dann versuchen wir gemeinsam, das Produkt zu verbessern.“ Seine Taktik funktioniert. Lavazza-Kaffeekapseln, BIC-Kugelschreiber können mittlerweile recycelt werden.

Für sein Engagement gewann Ercolini 2014 den Goldman Preis, auch Nobelpreis für Nachhaltigkeit genannt. Jetzt ist er in Rente und widmet seine volle Aufmerksamkeit dem Traum von Zero Waste. In einer Ecke liegen Hunderte kleine Plastikeisteebecher. Das ist sein neues Projekt.

Nanina wurde ursprünglich aus einer anderen Motivation gegründet. „Wir wollten in der Kirche unsere Nächstenliebe verwirklichen. Dafür sammelten wir Möbel im Gemeindesaal und in leer stehenden Häusern, um sie an Bedürftige zu spenden“, sagt Anna Lisa Pace. Als das Projekt immer größer wurde, tat man sich mit der örtlichen Müllentsorgungsgesellschaft zusammen. Bis heute stellt die Entsorgungsgesellschaft mietfrei mehrere Lagerhallen, weil das Projekt der Stadt Geld spart. Weniger Müll heißt weniger Entsorgungskosten. Mittlerweile ist aus dem christlichen Verein eine soziale Kooperative aller Religionen geworden. Nanina beschäftigt 30 Mitarbeitende und 70 Freiwillige. 300.000 Euro Umsatz macht sie pro Jahr und finanziert sich so meistens vollständig selbst.

Was noch fährt, wird repariert, alles andere zum Ersatzteil: Ein Blick in die Werkzeugkiste der Kooperative

Das Konzept der Kreislaufwirtschaft wie bei Nanina sei prinzipiell überall anwendbar, meint Anna Lisa Pace. Was es brauche, seien Platz und motivierte Initiatoren. Wenn die Sache einmal laufe, machten viele Menschen mit. Rossano Ercolini ist sich sicher: Viele seiner Zero-Waste-Strategien könnten weltweit adaptiert werden. In Kiel beispielsweise wird regelmäßig der Restmüll analysiert und eine Einführung von „Pay as you ­throw“ geprüft – Capannori ist dabei Vorbild.

Ercolini hat große Pläne. Er hat elf Millionen Euro Fördergeld von der EU für eine Windelrecyclinganlage bekommen. Damit will er Capannori auf bis zu 95 Prozent Recyclingrate bringen. Der pensionierte Grundschullehrer läuft zu seinem Auto, er will einen Freund besuchen. Sein Wagen ist alt und verbeult und sieht aus, als ob er gar nicht mehr fahren dürfte. Aber verschrotten ist keine Option.

Klappernd und ruckelnd fährt Ercolini vom Parkplatz in die toskanischen Hügel. Unterwegs wird er anhalten, um Müll zu sammeln.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen