: Aller Erschöpfung zum Trotz
Eine Begegnung mit der Schriftstellerin Zeruya Shalev, die sich – auch wenn ihr nach dem 7 Oktober 2023 das Schreiben abhandenkam – weiter fragt: Was außer einem friedlichen Zusammenleben kann denn das Ziel sein?
Von Elke Schmitter
Ende Februar kam Zeruya Shalev nach Deutschland, sie sprach im Literaturarchiv Marbach über Kafka und im Berliner „Jüdischen Salon“ über „Writing in the War Zone“, so gab es Gelegenheit für ein persönliches Treffen. Es geriet – in diesen Wochen des Missvergnügens, der Schocks und der Ungläubigkeit – zu einer paradoxen Intervention. Denn bei dieser israelischen Autorin ist man gleich zwiefach auf Dramatisches eingestellt. Zum einen, weil Shalev, seit ihrem Roman „Liebesleben“ (2000) hierzulande Bestsellerautorin, in ihrem Werk das menschliche Drama umkreist und durchdringt, Geschichten erzählt von Schuld und Verzeihung, von Liebe und Hörigkeit, von freudianischer Verstrickung. Zum anderen selbstverständlich, weil seit dem 7. Oktober 2023 kein jüdischer Stein auf dem anderen blieb und in ihrem Heimatland wie in der Diaspora der Schrecken und die Zerwürfnisse kein Ende finden. Es könnte schlimmer nicht sein, nicht wahr, und es gibt kaum Licht am Ende des Tunnels?
Darauf war ich gefasst, als ich ihr gegenüber saß, und dann folgte die Verblüffung. Nicht, dass sie Heiterkeit ausgestrahlt hätte. Aber auch nichts Apokalyptisches, keine Verzweiflung. Und ich bemerkte, während wir sprachen, wie mich das rührte und beschäftigte. Sie ist doch, so kann man’s sagen, eine Expertin der Schmerzen?
Sie lächelt, sie wundert sich, sie bestätigt – und schränkt es ein. Ja, in ihren Romanen ist der Schmerz ein starkes Motiv, im doppelten Sinne, als Phänomen wie als Treiber vieler Handlungen. Der Schmerz des Verlangens, der Sehnsucht, der unfreiwilligen Bindung – die nicht selten aus der Vergangenheit rührt, aus schicksalhaften Verkettungen über Generationen hinweg.
Ihre Urgroßeltern gehörten zu den ersten Pionieren; Juden aus Osteuropa, die noch vor dem Ersten Weltkrieg nach Palästina auswanderten, um den Pogromen zu entgehen und sich im Gelobten Land ein neues Leben aufzubauen. Ihre Mutter war eines der ersten Kinder, die im Kibbuz Kinneret zur Welt kamen, deren erster Mann starb im Widerstand gegen die Briten 1948, und Zeruyas Vater war ebenfalls Zionist im ursprünglichen Sinne: nicht die arabische Bevölkerung Palästinas war der Gegner, sondern die britische Besatzung, die so viele Holocaust-Flüchtlinge an der Einreise hinderte.
Mordechai Shalev war außerdem Bibelexperte, „eine Art säkularer Rabbi“, der seinen Kindern noch in der Vorschulzeit Kafka zum Einschlafen vorlas (was sie in Marbach erwähnte); ihre Kindheit empfand sie als behütet, als abgeschieden und still. Was wiederum mit einem privaten Schmerz zu tun hat, mit der schweren Erkrankung ihres Bruders, der komplexere medizinische Unterstützung benötigte, als sie im Kibbuz möglich war. So dass es zu einem Kleinfamilienleben an einem College kam, beide Eltern Professoren und sie viel beschäftigt mit ihrer Fantasie. Mit den Geschichten der jüdischen Tradition und der Familie wie dem milden Leid der Abgeschiedenheit. Wie eine Vorbereitung auf das innere Leben ihrer Protagonisten.
Doch dann, sage ich, gab es doch den 29. Januar 2004? Im Januar vor 21 Jahren wurde Shalev das Opfer eines Selbstmordattentäters, der sich mit dem Bus neben ihrem Auto in die Luft sprengte. Es war der 137. Bombenanschlag seit Beginn der zweiten Intifada im Jahr 2000, und er bedeutete für sie eine lange Geschichte physischen Leids bis hin zu körperlichen Einschränkungen, die sich nicht heilen lassen. Ein Moment, der ein Leben in vorher und nachher teilt. „Es war“, heißt es im Roman „Schmerz“, übersetzt von Mirjam Pressler, „noch nicht einmal die Macht der Explosion, jene fast vulkanartige Eruption des Zündstoffs, es waren auch nicht die Schrauben und Nägel und Muttern, gemischt mit Rattengift, um stärkere Blutungen zu verursachen, die ihre Ohren betäubten, sondern ein anderes Geräusch, tiefer und schlimmer als die Detonation, das Geräusch, mit dem sich Dutzende Fahrgäste vom Leben verabschiedeten, das Klagelied von Müttern, die Waisen zurückließen, die Schreie junger Mädchen, die nie erwachsen werden würden, das Weinen der Kinder, die nie mehr nach Hause kommen würden, von Männern, die sich von ihren Frauen verabschiedeten.“
Ich erlaube mir die Frage, warum sie nicht bitter geworden ist. Denn so wirkt sie nicht, und so agiert sie nicht – unter anderem als eine Mitbegründerin der Bewegung „Women Wage Peace“, in der arabische, muslimische, palästinensische und israelische Frauen unermüdlich gegen die Besatzungsmacht Israel und die Regierung Netanjahu protestieren. Das mag ihrem Temperament geschuldet sein, sagt sie, aber auch ihrer Herkunft aus diesem progressiven, sakülaren zionistischen Milieu, das sich, trotz aller Erschöpfung und Enttäuschung, immer wieder erneuert. Was, außer einem friedlichen Zusammenleben in zwei Staaten, könne denn überhaupt ein Ziel sein? Ich wage die Vermutung, dass die politische Ruhe, die sie – trotz aller realen Erschöpfung und Enttäuschung – ausstrahlt, vielleicht auch aus dem Zeithorizont der Geschichten herrührt, mit denen sie als Kind so gefüttert wurde wie mit Milch und Hummus: Wer sich in Jahrhunderten der Diaspora bewegt, ist möglicherweise resistenter gegen Jahrzehnte der heimischen Frustration?
Darüber wäre nachzudenken, sagt sie. Am Abend, vor dem Publikum der Berliner Volksbühne im Gespräch mit Shelly Kupferberg, führt sie die beiden Seiten ihrer Existenz, die Israelin und die Autorin, wieder zusammen. Das Schreiben, sagt sie, kam ihr nach dem 7. Oktober als Erstes abhanden. Gegen die absolute Zerstörung kann es, so resümiert sie die vergangenen anderthalb Jahre, nichts ausrichten. Die Hälfte des Herzens, „half of the heart“, liegt brach, die Hälfte des Verstandes ist gelähmt von Kummer, von Pein und Angst. Die Opposition sei in einer nahezu aussichtslosen Lage gegenüber einer so kriminellen wie faschistischen Regierung. Und die Armee könne die Bürger, wenn auch unvollkommen, vor der Hisbollah und anderen äußeren Feinden schützen – aber nicht gegen den eigenen Staat. Und doch, sagt sie, gibt es an jedem Samstagabend große Demonstrationen, „where you can see the beautiful face of Israel, which seems almoust forgotten in the world“.
Auf der Bühne ist sie eher scheu; zurückgenommen, langsam in ihren Antworten. Sie denkt nach, sucht nach den richtigen Worten. Bleibt immer bei sich. Ja, die Hamas ist kein Partner, denn sie will Israel vernichten und jüdische Menschen töten – aber das ist die gegenwärtige Hamas. Und sie kennt arabische Israelis, Palästinenser, Muslime, die nicht hassen, die nach Lösungen suchen, wie sie.
Ihr bislang letztes Werk als Autorin war ein Text für eine Anthologie. Soldaten waren vor einem gefährlichen Einsatz von ihrem Kommandanten angehalten worden, Abschiedsbriefe zu schreiben. Zu ihrem Erstaunen stand in all diesen Briefen nicht der Schmerz im Mittelpunkt, sondern die Dankbarkeit. Für die Fürsorge der Eltern, für die Obhut in den Institutionen, für eine Gesellschaft, die das Leben höher schätzt als das Märtyrertum und den Tod. Und das sei doch die elementare politische Unterscheidung, zwischen Menschen wie zwischen Kulturen.
Die innere Bewegtheit und die aufmerksame Beweglichkeit, die Shalev als Bürgerin wie als Autorin repräsentiert, erinnert an einen Gedanken der Heldin von „Schmerz“, einer Lehrerin der Geschichte: „Wodurch lernen wir etwas über die Vergangenheit, wenn nicht aus der Gegenwart?“ Paradoxien liegen ihr eigentlich weniger als vielen ihrer israelischen Kolleg:innen. Doch die verblüffende Selbstverständlichkeit, mit der sie Trauer, Schmerz und zugleich eine alternativlose Zuversicht verbindet, hat in diesen absurden Zeiten eine bezwingende Kraft.
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