: Teilhabe fördern statt Exklusionspolitikbetreiben
Die aktuelle Debatte um Flucht und Asylpolitik geht an den eigentlichen Herausforderungen in Deutschland vorbei. Es braucht eine evidenzbasierte Migrationspolitik
Von Birgit Glorius undJudith Vey
Zurückweisungen auch bei Asylgesuchen an den Grenzen, Aussetzung von Familiennachzug und von humanitären Aufnahmeprogrammen, Einrichtung von „Ausreisearrest“ und eine Erweiterung der Liste sicherer Herkunftsstaaten. Die Vorstellungen zur Steuerung von Migration im Sondierungspapier von CDU/CSU und SPD lesen sich geradezu dystopisch. Mit diesen Maßnahmen reagiert die künftige Bundesregierung unter Friedrich Merz auf aktuelle und längerfristige gesellschaftliche Herausforderungen.
Als sozialwissenschaftlich arbeitende Migrationsforscherinnen analysieren wir den Zustand der Gesellschaft multiperspektivisch und beobachten, wie sich Veränderungen von Rahmenbedingungen in der Realität niederschlagen und wie sich die Gesellschaft als Ganzes in migrations- und asylrechtlichen Fragen entwickelt. Was sind die gesellschaftlichen Herausforderungen, auf die gerade mit so rigorosen Maßnahmen politisch reagiert wird? Und vor allem: Welche Ursachen haben sie?
Der Stellenwert, den das Thema Migration in den Debatten vor allem der vergangenen Monate sowie in den aktuellen Sondierungs- und Koalitionsverhandlungen einnimmt, und die Art und Weise, wie die Thematik diskutiert wird, ist durch eine extreme Engführung der Problemperspektive geprägt. Wissenschaftliche Erkenntnisse der Flucht- und Migrationsforschung finden in der Politik kaum Berücksichtigung. Anstelle einer menschenrechts- und evidenzbasierten Politik werden vermeintliche Lösungen für vermeintliche Probleme präsentiert. Die aktuelle Politik verkennt die tatsächlichen Herausforderungen im Asyl- und Migrationsbereich.
Übersehen wird dabei der wissenschaftlich dargelegte dringende Handlungsbedarf in Bezug auf den Abbau von Exklusionsmechanismen, mit denen Geflüchtete in allen zentralen gesellschaftlichen Bereichen wie Bildung, Arbeitsmarkt, Wohnen wie auch gesellschaftliche und politische Teilhabe konfrontiert werden. Insbesondere die Asylpolitik wird überwiegend als Exklusionspolitik betrieben.
Gewalttaten von Einzeltätern wie in Aschaffenburg oder München werden viel zu oft stellvertretend für alle Asylsuchenden und für eine als gescheitert erklärte Asylpolitik gewertet. Sinnvoller wäre, sachlich-analytisch nach den Ursachen dieser Taten zu fragen. Aus Sicht der Fluchtforschung überrascht es nicht, dass aus den durch jahrelange Unsicherheit und Exklusion geprägten Lebensumständen von Asylsuchenden psychische Erkrankungen und potenziell auch Radikalisierungen resultieren. Fluchtforscher:innen sprechen seit Jahrzehnten von Sammelunterkünften als Orten der (Im-)Mobilisierung und Werkzeugen migrationspolitischer Regierungspraktiken, von halboffenen Lagern und Orten der organisierten Desintegration. Aktuelle Kürzungen bei Sprachkursen, Beratungsstellen und psychosozialen Zentren verstärken diese Effekte zusätzlich, ganz zu schweigen von der Kasernierung von Geflüchteten in Lagern, wie es sie seit 2018 als Ankerzentren flächendeckend in Bayern gibt. In diesen abgeschirmten Unterkünften wird den Bewohner:innen nahezu jedwede Möglichkeit auf Selbstbestimmung, Privatsphäre und gesellschaftliche Teilhabe verwehrt. Vollverpflegung, genau abgezählte Wochenrationen an Toilettenpapier, für abgelehnte Asylsuchende keinerlei Bargeldausgabe, keine unabhängigen Beratungsmöglichkeiten auf dem Gelände – so sieht die Realität in diesen Sammelunterkünften aus. Sogar die Gewerkschaft der Polizei lehnte damals deren Einführung ab; die Organisation Ärzte der Welt beendete die Betreuung, da sie unter den vorherrschenden Bedingungen nicht mehr länger die Verantwortung für die zum Teil schwer psychisch kranken und dringend behandlungsbedürftigen Patient:innen tragen konnte. In Eisenhüttenstadt und in Hamburg sind in den vergangenen Wochen die ersten zwei sogenannten Dublin-Zentren für Geflüchtete, die über ein EU-Land eingereist sind, eröffnet worden. Hier soll es, wie es die sozialdemokratische Innenministerin Brandenburgs Katrin Lange formulierte, nur „Brot, Bett und Seife“ geben.
Folge dieser zunehmend auf Ausgrenzung und Abwehr fokussierten Strategien ist ein destruktiver gesellschaftlicher Diskurs und die Normalisierung von rassistischen, demokratiefeindlichen rechten Positionen.
Ob auf dem Arbeits- oder Wohnungsmarkt, im zivilgesellschaftlichen Engagement oder im Bildungsbereich: Migrantisierte Menschen werden in Deutschland systematisch benachteiligt. Migrant:innen und Menschen auf der Flucht werden mehr und mehr als Feinde betrachtet.
Eine solche Politik ist grundlegend falsch und gefährlich; auch, weil sie droht, die eigenen demokratischen, rechtsstaatlichen und menschenrechtlichen Fundamente auszuhöhlen. Ein Blick in die USA reicht, um zu erkennen, wie schnell es um die Rechte aller Bürger:innen geschehen ist.
Eine Kehrtwende in zweierlei Hinsicht ist notwendig. Zum einen müssen Politik und Gesellschaft wahrnehmen, dass die Welt zunehmend von Konflikten und Kriegen beherrscht wird und die Zahl der Flüchtenden damit steigt. Gewalt, Hunger, die klimabedingte Vernichtung von Lebensgrundlagen – es gibt viele Gründe, warum Menschen ihre Heimat verlassen. Und wir sind mit unserer Lebensweise im erheblichen Maße daran beteiligt. Der deutsche Soziologe Stephan Lessenich beschreibt anschaulich, wie wir die Kosten unserer Lebensweise auf andere Gesellschaften – vor allem im Globalen Süden – und auf spätere Generationen auslagern. Unsere Lebensweise ist einer der Gründe, warum Menschen ihre Heimat verlassen und in andere Länder fliehen müssen. Nur ein kleiner Prozentsatz davon erreicht den Globalen Norden.
Migration lässt sich nicht durch die gewaltvolle Ausgrenzung und Abweisung von Menschen mit Flucht- oder Migrationserfahrung beenden. Stattdessen müssen wir anerkennen, dass unsere Lebensweise mit den globalen Fluchtbewegungen strukturell verstrickt ist. Und schon gar nicht dürfen wir unsere rechtlichen Verpflichtungen gegenüber Menschen auf der Flucht verneinen.
Zum zweiten herrscht in Deutschland ein allgegenwärtiger Pessimismus. Eine Gesellschaft, die zwar durch Einwanderung und Diversität seit Langem geprägt ist, es aber versäumt hat, diese Tatsache in ein kollektives Selbstverständnis eingehen zu lassen.
Jede:r zweite Einwohner:in ist heute älter als 45 und jede fünfte Person älter als 66 Jahre. Das Ausscheiden der geburtenstarken Babyboomer-Generation aus dem Erwerbsleben erzeugt einen Ersatzbedarf von rund 500.000 Personen – pro Jahr! Bereits heute ist die Zahl nicht besetzter Arbeitsplätze mit 1,5 Millionen auf einem Rekordhoch, mit deutlichen branchenspezifischen Peaks wie etwa im Handwerk oder in der Pflege. Trotz vieler positiver Änderungen in der deutschen Einwanderungsgesetzgebung verdrängt der migrationspolitische Diskurs durch seinen Fokus auf Abwehr und Kontrolle die reale Lage. Dabei haben wir es mit einem stetig wachsenden Bedarf an Arbeitskräften zu tun und mit dem Manko einer schwer zu lernenden Sprache, einer überbordenden Bürokratie und einer notorisch schlecht gelaunten Bevölkerung.
Asylsuchende und Migrant:innen sind nicht eine Bürde, sie sind eine Chance, gesellschaftliche Probleme in Deutschland zu lösen. Stattdessen werden arbeitsfähige Menschen, die zu uns kommen, gleich ob als Asylsuchende oder als Arbeitsmigrant:innen, mit einer Flut von Forderungen und Prüfaufträgen konfrontiert. Oft dauert es Jahre, bis sie beruflich dort wieder ansetzen können, wo sie in ihrem Herkunftsland aufgehört haben. Tausende mexikanische Krankenschwestern, syrische Lehrerinnen und ukrainische Ärztinnen üben ihre Berufe in Deutschland nicht aus, sondern warten auf den Ausgang ihres Anerkennungsverfahrens. Selbst wenn das Deutsch nicht lupenrein ist, selbst wenn die syrische Lehrerin vielleicht nur ein Lehrfach und nicht zwei studiert hat, selbst wenn der irakische Lackierer keinen Gesellenbrief mitbringt, dafür aber 20 Jahre Berufserfahrung, könnten sich diese Menschen viel unmittelbarer in den Arbeitsmarkt einbringen. Sie sollten dabei flexibel und individuell unterstützt werden. Stattdessen wird ihnen der Weg ins Arbeitsleben und in ein selbstbestimmtes Leben mit einer Flut von Auflagen erschwert.
Angesichts der besorgniserregenden globalen Sicherheitslage und der großen Herausforderungen der kommenden Jahre ist es umso wichtiger, eine positive gesellschaftliche Transformationsstimmung zu erzeugen, die alle Teile der Gesellschaft einbezieht und eben nicht auf Abwehr, Ausgrenzung und Kontrolle basiert.
Aus diesem Grund haben wir eine Stellungnahme für eine evidenz- und menschenrechtsbasiserte Migrations- und Asylpolitik verfasst:
https://fluchtforschung.net/fuer-eine-evidenz-und-menschenrechtsbasierte-migrations-und-asylpolitik/
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen