: „Sie haben sich entschieden, an diesem Krieg nicht teilzunehmen“
Kriegsdienstverweigerer brauchen mehr Schutz, sagt Rudi Friedrich vom Verein Connection. Ein Gespräch über drei Jahre Ukrainekrieg und Männer auf beiden Seiten, die nicht kämpfen wollen
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Interview Susanne Memarnia
taz: Herr Friedrich, Ihr Verein Connection e. V. unterstützt Kriegsdienstverweigerer. Was heißt das genau?
Rudi Friedrich: Wir arbeiten auf internationaler Ebene für das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung. Das heißt konkret, dass wir zum einen Gruppen und Personen unterstützen, die sich in anderen Ländern für Kriegsdienstverweigerung einsetzen oder selber Kriegsdienst verweigern und Repressionen erleben. Zudem setzen wir uns für diejenigen ein, die als Kriegsdienstverweigerer nach Deutschland fliehen und hier Asyl suchen.
taz: Der Ukrainekrieg geht ins vierte Jahr. Wie viele Ukrainer und Russen haben sich seit Kriegsbeginn an Sie gewandt?
Friedrich: Es sind sicher einige Tausend von beiden Seiten, die sich in den letzten drei Jahren bei uns gemeldet haben. Wir sind aber nicht die einzige Organisation, die dazu arbeitet, Pro Asyl etwa hat auch viele Anfragen bekommen. Und es gibt bestimmt ein Dutzend russische Gruppen, die in europäischen Ländern, zum Teil auch in Russland, mit Kriegsdienstverweigerern arbeiten. Viele Russen sind zum Beispiel nach Georgien, Armenien oder Kasachstan geflohen und werden dort von Gruppen unterstützt, mit denen wir eng zusammenarbeiten. Das Gleiche gilt für die ukrainischen Kriegsdienstverweigerer: Einige sind in andere Länder gegangen, andere befinden sich noch in der Ukraine und werden dort verfolgt.
taz: Gibt es Zahlen, wie viele Kriegsdienstverweigerer es aus beiden Ländern gibt?
Friedrich: Nach unseren Schätzungen sind aus Russland mehr als 250.000 Männer geflohen, weil sie nicht in den Krieg einberufen werden wollten, und aus der Ukraine mehr als 300.000. In Deutschland haben nach Angaben des Bundesamts für Migration etwa 3.500 Russen wegen Kriegsdienstverweigerung Asyl beantragt, in der ganzen EU sind es um die 10.000. Aber EU-weit werden die allermeisten leider in ihren Asylverfahren abgelehnt. Wie viele Verweigerer aus der Ukraine in Deutschland sind, wissen wir nicht wirklich. Rechtlich sind sie hier bislang auf der sicheren Seite: Sie haben wie alle ukrainischen Staatsbürger derzeit noch den humanitären befristeten Aufenthalt, der erst mal weiter gilt bis März 2026.
taz: Warum bekommen die russischen Verweigerer kein Asyl?
Friedrich: Die Bundesregierung – jetzt muss man ja sagen: die alte Bundesregierung – hat ebenso wie das oberste Asylgericht in Frankreich erklärt, dass Deserteure aus Russland einen Flüchtlingsschutz erhalten sollen. Zumindest insofern sie nachweisen können, dass sie desertiert sind und nicht in Kriegsverbrechen involviert sind. Das sind aber nur relativ wenige. Denn Desertion heißt, dass jemand im Militär war, von dort abgehauen ist und es geschafft hat, nach Deutschland oder Frankreich zu kommen. Die meisten Russen, die in den Westen geflohen sind, sind allerdings Militärdienstentziehende – also Leute, die frühzeitig sagen, ich würde auf keinen Fall zum Militär gehen, denn dann droht mir ja, dass ich in der Ukraine eingesetzt werde. Ihre Asylanträge werden in aller Regel abgelehnt, mit der Begründung, es sei nicht „beachtlich“ wahrscheinlich, dass sie für den Krieg rekrutiert werden.
taz: Aber das ist doch absurd.
Friedrich: Ja, das ist absurd. Das Verwaltungsgericht Berlin hat deswegen im Januar ein wichtiges Urteil gefällt. Und zwar auf Grundlage von Informationen der erwähnten russischen Gruppen über die Verfolgung von Männern, die sich dem Militärdienst entziehen, sowie über das Risiko, als Einberufener in den Krieg geschickt zu werden. Deswegen hat das Verwaltungsgericht in zwei Fällen gesagt: Es gibt sehr wohl eine Wahrscheinlichkeit, dass diese Leute im Krieg eingesetzt werden, und sie müssen deswegen Flüchtlingsschutz erhalten.
taz: Was passiert mit russischen Kriegsdienstverweigerern, wenn ihr Asylantrag abgelehnt wird?
Friedrich: Es gab eine kleine Zahl von Abschiebungen über Serbien und wohl auch über die Türkei. Aber die meisten Asylverfahren laufen noch. Es gab zwar eine Menge von Ablehnungen durch das Bundesamt für Migration, aber gegen die wurde zumeist geklagt. Damit gehen die Fälle vor die Verwaltungsgerichte, und hier gibt es bislang relativ wenige Entscheidungen – umso wichtiger war das Urteil kürzlich in Berlin. Allerdings gab es im November auch von der höheren Instanz – dem Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg – eine Ablehnung in einem anderen Fall. Die betreffende Person ist damit wirklich in Gefahr, abgeschoben zu werden.
taz: Wir haben also folgende Situation: Russische Kriegsdienstverweigerer, die sich nicht an einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg beteiligen wollen, werden nicht anerkannt und abgeschoben, während Ukrainer, die nicht kämpfen wollen, eine Aufenthaltserlaubnis bekommen und geschützt sind?
Friedrich: So sieht es in der Tat aus. Wobei bei den Ukrainern nicht die Frage relevant ist, ob sie sich dem Militärdienst entzogen haben oder nicht – sie sind einfach ukrainische Staatsbürger.
taz: Aber eigentlich lässt ja die Ukraine Männer im wehrfähigen Alter gar nicht ausreisen. Wie kamen die Männer hierher?
Friedrich: Viele sind schon zu Anfang des Krieges oder vorher ausgereist. Und es gab immer Ausnahmegenehmigungen, die zum Teil noch Bestand haben, etwa wenn jemand die einzig mögliche Pflegeperson für einen Familienangehörigen ist. Oder wenn jemand Hilfstransporte fährt.
taz: Wie geht die Ukraine mit Kriegsdienstverweigerern um?
3 Jahre nach Beginn des russischen Angriffskriegs leben in Berlin rund 70.000 Flüchtlinge aus der Ukraine. Die meisten kamen im ersten Kriegsjahr, 2024 sind noch einmal knapp 11.000 Ukrainer hier angekommen. Die meisten werden zunächst im Ankunftszentrum Tegel untergebracht. Dort und in anderen Flüchtlingsunterkünften des Landes leben derzeit rund 4.000 Menschen. Vor dem Krieg lebten etwa 14.000 Ukrainer in Berlin.
Rund 60 Prozent der ukrainischen Kriegsflüchtlinge sind weiblich. Das bedeutet: Es gibt relativ viele Männer unter den Geflüchteten, auch wenn die Ukraine seit Kriegsbeginn eigentlich keine Männer im wehrpflichtigen Alter ausreisen lässt. Wie viele ukrainische Männer in Berlin leben, die von der Armee eingezogen werden sollten, ist unbekannt.
Aufgrund der „Massenzustrom-Richtlinie“ der EU haben ukrainische Kriegsflüchtlinge sofort eine Aufenthaltserlaubnis bekommen. Die wurde bereits mehrfach verlängert und gilt nun in der Regel bis März 2026. Damit haben Ukrainer ein Recht auf Bürgergeld, Krankenversicherung und dürfen sofort arbeiten. Die Beschäftigungsquote bei Ukrainern in Berlin liegt mit 31 Prozent (Juli 2024) unter der anderer Geflüchteter (46 Prozent) – zum einen weil sie im Schnitt kürzer in Deutschland leben, zum anderen weil sie zunächst Integrations- und Sprachkurse machen sollen, bevor sie in Arbeit vermittelt werden. (sum)
Friedrich: Mit Beginn des Krieges hat sie das Recht auf Kriegsdienstverweigerung ausgesetzt. Das bedeutet, dass Kriegsdienstverweigerer strafrechtlich verfolgt und zum Teil zu mehreren Jahren Haft verurteilt werden. Es gibt einige, die im Gefängnis sitzen, andere sind an die Front gebracht worden. Forum 18, eine Organisation aus Norwegen, hat dokumentiert, dass es insgesamt 600 Verfahren gegen Kriegsdienstverweigerer in der Ukraine gibt. Und es gibt noch viel mehr Verfahren gegen Deserteure. Ihnen drohen jahrelange Haft oder der erneute Einsatz an der Front.
taz: Was hören Sie von ukrainischen Kriegsdienstverweigerern über deren Motive? Es gibt ja vermutlich für Ukrainer einen relativ hohen moralischen Druck, an der Landesverteidigung mitzuwirken.
Friedrich: Natürlich ist der Druck sehr hoch, und es gibt relativ wenige Ukrainer, die mit ihrer Verweigerung an die Öffentlichkeit gehen. In den Fällen, in denen wir Genaueres wissen, sind die Kriegsdienstverweigerer zum Beispiel Christen, die gewaltfreien Religionsgemeinschaften angehören – also Adventisten, Zeugen Jehovas und andere. Was man auch oft hört, sowohl auf der russischen wie auf der ukrainischen Seite: Ich habe Familie auf der anderen Seite, ich kann doch nicht gegen meine eigene Familie in den Krieg ziehen! Das spiegelt auch die Gesellschaften wider: Es gibt eben nicht eine ukrainische Gesellschaft hier, eine russische Gesellschaft dort. Es ist vielfältiger.
taz: Ich habe gehört, dass ukrainische Männer in Berlin manchmal doch Schwierigkeiten bekommen, zum Beispiel wenn sie einen neuen Pass brauchen.
Friedrich: In der Tat werden die ukrainischen Männer, wenn sie einen Pass beantragen wollen, noch mal gemustert. Das passiert in der Regel in der Ukraine, und die Musterungskriterien wurden verschärft. Nun brauchen die Männer hier allerdings keinen Pass, wenn sie den befristeten humanitären Aufenthalt haben. Anders sieht es bei Ukrainern aus, die mit einem Arbeitsvisum in Deutschland sind. Wenn deren Pass ausläuft, brauchen sie einen neuen, sonst verlieren sie womöglich ihre Arbeitserlaubnis. Aber dafür müssten auch sie zur Musterung in die Ukraine – und würden dann dort festgehalten. Das kann also zu einem echten Problem werden, wenn die Ausländerbehörde darauf besteht, dass ein Mann sich einen gültigen Pass besorgen muss.
taz: Macht denn die ukrainische Regierung Druck auf die deutsche Regierung, Männer an sie auszuliefern?
Friedrich: Tatsächlich hat die Ukraine einzelne Auslieferungen beantragt. Laut europäischem Auslieferungsabkommen darf zwar nicht wegen Militärstraftaten ausgeliefert werden, aber die Ukraine sagt in einigen Fällen, es gehe um Widerstand gegen die Staatsgewalt oder Ähnliches. In solchen Fällen darf sehr wohl ausgeliefert werden, hat kürzlich der Bundesgerichtshof entschieden. Das heißt, diese ukrainischen Männer unterliegen tatsächlich dem Risiko, in den Krieg geschickt zu werden. Das sind nicht sehr viele, aber es gibt diese Fälle.
taz: Deutschland bekommt bald eine neue Regierung. Was sind Ihre wichtigsten Forderungen?
Friedrich: Zum einen, dass russische Militärdienstentzieher und -verweigerer hier endlich Schutz bekommen. Sie haben sich entschieden, nicht an diesem Krieg teilzunehmen – das sollte doch unterstützt werden. Für die Ukraine wünsche ich mir, dass Deutschland und die EU Druck machen, dass das Recht auf Kriegsdienstverweigerung – ein grundlegendes Menschenrecht – eingehalten wird. Schon vor dem Krieg hat die Ukraine das sehr restriktiv gehandhabt, jetzt ist es ausgesetzt und es gibt Strafverfahren gegen Verweigerer. Bei einem Beitrittskandidaten für die Europäische Union wäre es doch das Mindeste, dass Menschenrechtsstandards eingehalten werden.
taz: Ist es nicht viel verlangt von einem Staat, der sich gegen einen Angriff verteidigt, auf potenzielle Soldaten zu verzichten?
Friedrich: Das Beste ist natürlich immer, einen Krieg zu beenden. Und die Zahl derjenigen, die gesagt haben, ich will nicht kämpfen, ist auch ein Hinweis darauf, dass nicht alle Menschen in der Ukraine diesen Krieg wirklich unterstützen. Man muss also andere Lösungen finden. Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung ist ein Menschenrecht. Und Menschenrechte darf man nicht einfach aussetzen.
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