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Die Schreibtischrebellion

Redaktionen wissenschaftlicher Fachzeitschriften treten zunehmend aus Protest zurück, sie sind unzufrieden mit ihrer Rolle im Geschäftssystem der Verlage. Was steckt dahinter?

Von Enno Schöningh

Wenn sich Leute aus Unzufriedenheit selbst feuern, gibt es ein Problem. Irgendetwas muss schieflaufen, wenn nicht nur vereinzelte Re­dak­teur:in­nen, sondern ganze Redaktionen zurücktreten. Genau das passiert seit einigen Jahren immer häufiger in der Welt der wissenschaftlichen Fachmagazine. Seit 2023 kam es zu insgesamt 22 redaktionellen Massenrücktritten bei renommierten Fachzeitschriften.

Einige davon haben Briefe veröffentlicht, in denen sie die Rücktrittsgründe benennen. Sie lesen sich wie eine Anklage gegen ein zunehmend gewinnorientiertes System mit immer weniger Mitbestimmungsmöglichkeiten. Und wie ein Hilfeschrei, die Wissenschaft, so wie sie sie kennen, aufrechtzuerhalten: Qualität statt Quantität, Peer-Review statt vorsortierende Algorithmen, kritische Theorie statt Managementpapiere.

In welchem Land die Verlage ihren Hauptsitz haben, ist für die Wis­sen­schaft­le­r:in­nen im Grunde egal. Sie versuchen, ihre Forschung dort zu platzieren, wo sie die größte Reichweite hat. Das sind englischsprachige Zeitschriften mit Sitz in Westeuropa und Nordamerika. Wenn in diesem System etwas nicht geradeläuft, betrifft das alle Forscher:innen, egal ob aus Deutschland, Indien, oder den USA.

Die taz hat sich drei Fälle angesehen: die Rücktritte bei Critical Public Health, einer Zeitschrift des Verlags Taylor & Francis, bei der Fachzeitschrift Gender, Work and Organization des Verlags Wiley und beim Journal of Human Evolution des Verlags Elsevier. In allen Fällen haben die ehemaligen Re­dak­teu­r:in­nen einen Abschiedsbrief mit den Rücktrittsgründen veröffentlicht. In zwei Fällen hat die taz die Verlage um eine Stellungnahme gebeten, in einem Fall gibt es bereits eine öffentliche Stellungnahme des Verlags zu den Vorwürfen. Die taz sprach außerdem mit Ivan Oransky von der Nichtregierungsorganisation Retraction Watch, einer Datenbank für den Rückzug wissenschaftlicher Artikel und Kündigungen beziehungsweise Rücktritten bei Fachzeitschriften.

„Die Häufigkeit scheint in den letzten Jahren zugenommen zu haben“, heißt es zu den Massenrücktritten auf der Webseite von Retraction Watch. Mit Sicherheit könne man das aber nicht sagen, da die historische Rate unbekannt sei, gibt Ivan Oransky zu bedenken, der die Organisation ehrenamtlich unterstützt.

Im ersten der drei untersuchten Fälle traten die Mitherausgeberinnen und die meisten Mitglieder des Redaktionsausschusses der Zeitschrift Critical Public Health im Sommer 2023 zurück. „Während es bei einer kritisch orientierten wissenschaftlichen Zeitschrift, die von einem kommerziellen Verlag vermarktet wird, unvermeidlich Spannungen gibt, ist es in den letzten Jahren immer schwieriger geworden, diese beiden unterschiedlichen Versionen der Zeitschrift zusammenzuhalten“, erklärten die Mitherausgeberinnen Judith Green und Lindsay McLaren in einer Pressemitteilung zu ihrem Rücktritt.

Die Redaktion beklagt den zunehmenden Einfluss des Verlags auf redaktionelle Entscheidungen wie den Artikelumfang und die Vereinheitlichung der Vorproduktion über eine Einreichungsplattform, die der Redaktion die Möglichkeit nehme, „kollegial und maßgeschneidert“ auf Au­to­r:in­nen und Gut­ach­te­r:in­nen einzugehen. Der Verlag Taylor & Francis hat auf Anfrage der taz zu den Vorwürfen nicht geantwortet. Der NGO Retraction Watch teilte der Verlag im Juli 2023 mit, man sei enttäuscht über den Rücktritt, freue sich aber auf ein neues Redaktionsteam.

Die Verlage verkaufen den Universitäten ihre eigene Arbeit

Die Redaktion einer wissenschaftlichen Zeitschrift entscheidet, welche der eingereichten Artikel veröffentlicht werden. Dazu sucht sie für jedes Paper geeignete Gutachter:innen, die ihre Arbeit unentgeltlich verrichten; die Forschung der Kol­le­g:in­nen zu prüfen, gilt unter Aka­de­mi­ke­r:in­nen als Ehrensache. Bei Journalen mit hohen Einreichungs- und niedrigen Annahmequoten entscheidet die Redaktion, ob der aufwendige Peer-Review-Prozess für ein eingereichtes Paper überhaupt in Gang gesetzt wird. Am Ende entscheiden die Re­dak­teu­r:in­nen auf Basis des Gutachtens und ihrer eigenen Meinung, ob ein Beitrag veröffentlicht wird. Sie beeinflussen also maßgeblich, welche Themen und Artikel den langen Weg bis zur Publikation schaffen und welche auf der Strecke bleiben.

Der wirtschaftliche Überbau dieses Systems sind die Verlage, die meisten von ihnen arbeiten gewinn­orientiert. Ihr Geschäftssystem basiert darauf, Forschungsarbeiten, die oft bereits durch die Universitätsgehälter der Wis­sen­schaft­le­r:in­nen bezahlt sind, zu drucken und für viel Geld an die Universitätsbibliotheken zurückzuverkaufen.

Auch sogenannte Open-Access-Journale verlangen eine Einreichungsgebühr – die von den Forschenden und ihren Institutionen selbst zu entrichten ist – sie beträgt meistens viele Tausend Euro. Die Wissenschaft macht mit, weil Publikationen in den renommiertesten Fachmagazinen als Karriereöffner beziehungsweise als Notwendigkeit für eine erfolgreiche wissenschaftliche Karriere gelten.

Ein weiterer Massenrücktritt erfolgte bei dem Fachmagazin Gender, Work and Organization, herausgegeben von Wiley, im Frühjahr 2024. Den offenen Brief zum Rücktritt unterzeichneten 344 Personen, die als Mitherausgeber:innen, Mitglieder des Beirats, Mitglieder des Redaktionsbeirats, Gut­ach­te­r:in­nen und Au­to­ren:­in­nen für das Journal gearbeitet hatten.

Die Unterzeichnenden werfen dem Verlag vor, die inhaltliche Ausrichtung der Fachzeitschrift gegen den Willen der Redaktion verändert zu haben. In dem Brief heißt es: „Es ist offensichtlich, dass die Zeitschrift jetzt an umfangreichen, qualitativ minderwertigen und am Mainstream orientierten Managementpapieren interessiert ist“, und „wir haben kein Vertrauen, dass die derzeitige Leitung mit den Werten unserer integrativen, feministischen Gemeinschaft übereinstimmt“. Der Verlag hat auf Anfrage der taz zu den Vorwürfen nicht reagiert.

Universitäts­bibliotheken zahlen viel Geld an die Wissenschaftsverlage für den Zugang zu ihren Journalen. Hier zu sehen die Bibliothek der Uni Greifswald Foto: Bernd Jonkmanns/laif

Kritik an der Art und Weise des Massenrücktritts kommt aus der Wissenschaft. In einem Paper kritisieren zwei Forscher:innen, dass der Massenrücktritt von Gender, Work and Organization die negativen Auswirkungen auf Nach­wuchs­wis­sen­schaft­le­r:in­nen und marginalisierte Wis­sen­schaft­le­r:in­nen nicht berücksichtigt hat.

Allerdings suchten die Au­to­r:in­nen nach eigenen Angaben absichtlich nach Wis­sen­schaft­ler:in­nen, die dem Rücktritt kritisch gegenüberstanden. Ihr Ziel war es, diese Gruppe besser zu verstehen, und nicht, eine ausgewogene Studie zum Rücktritt durchzuführen.

Künstliche Intelligenz ist nicht das grundsätzliche Problem

Im dritten Fall traten alle Mitglieder des Redaktionsausschusses des Journal of Human Evolution, eines Fachmagazins des Verlags Elsevier, Ende 2024 zurück. Im Herbst 2023 führte Elsevier nach Angaben der ehemaligen Redaktion den Einsatz von künstlicher Intelligenz während der Produktion ein, ohne die Re­dak­teu­r:in­nen zu konsultieren. Die Änderungen führten dazu, dass akzeptierte Versionen von Beiträgen umgestoßen würden, selbst wenn sie von den bearbeitenden Re­dak­teu­r:in­nen bereits korrekt formatiert wurden, hieß es im Rücktrittsschreiben.

Elsevier fiel schon früher durch hohe Kosten negativ auf. 2012 unterschrieben 12.500 Wis­sen­schaft­le­r:in­nen einen Eid mit dem Titel „The Cost of Knowledge“, in dem sie gelobten, keine Artikel mehr bei Elsevier zu veröffentlichen, auch die reiche Harvard University rief ihre Wis­sen­schaft­le­r:in­nen im selben Jahr dazu auf, nicht mehr in Elsevier zu veröffentlichen, weil die Bibliothek die Gebühren für die Magazine nicht mehr bezahlen könne.

Auch wenn der Einsatz von KI im Journal of Human Evolution für Aufsehen gesorgt hatte, sieht Oransky von Retraction Watch die künstliche Intelligenz nicht als das grundlegende Problem der Branche. Papiermühlen seien älter als KI und das interne Motto der Wissenschaft „publish or perish“, also „veröffentliche oder verrecke“, auch. KI lenke lediglich davon ab, dass das Verlagswesen der Fachzeitschriften sich mit bestimmten Grundprinzipien der Wissenschaft widerspreche. „Akademische Freiheit und Qualitätskontrolle sind mit dem Geschäftsmodell nicht vereinbar“, sagt Oransky.

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