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Ein Bündel Katastrophen

David Safier zeichnet im Roman „Solange wir leben“ den Werdegang seiner Eltern zwischen Holocaust und Alltagsklippen nach. Alize Zandwijks Inszenierung der Bühnenfassung am Theater Bremen setzt ihren und ihrer unbeirrbaren Liebe ein würdiges Denkmal

Frohsinn und Wahnsinn, dicht gedrängt: Szene aus „Solange wir leben“ Foto: Theater Bremen

Von Andreas Schnell

„Wer weiß, welche verbalen und humanitären Dammbrüche wir bis dahin noch erleben werden“, schrieb Michael Börgerding, der im Januar verstorbene Generalintendant des Theaters Bremen, in seiner Oktoberkolumne vor etwa einem halben Jahr nahezu prophetisch. „Bis dahin“: Damit meinte er die Premiere von „Solange wir leben“ nach dem gleichnamigen Roman von David Safier. Und der rührt heute noch an andere Themen als bei seinem Erscheinen als Roman vor zwei Jahren. Börgerding nannte das Buch ein „wunderbares Vademecum in diesen Zeiten der verbalen Aufrüstungen gegen Menschen, die bei uns Schutz suchen“.

Safiers Vater, ein Wiener jüdischer Abstammung, entging knapp der nationalsozialistischen Vernichtung. Dass er viele Jahre später ausgerechnet eine Bremerin aus einer Arbeiterfamilie heiraten würde, ist eine der Volten dieser Geschichte, die so unwahrscheinlich klingen, dass sie wahr sein müssen.

Die Geschichte von David Safiers Eltern Joschi und Waltraut ist kompliziert und lang. Mehr als 460 Seiten hat das Buch, John von Düffel hat daraus eine Bühnenfassung erstellt. Beinahe vier Stunden nimmt sich Hausregisseurin Alize Zandwijk, um die rund 80 Jahre, die sie dauert, auf der Bühne des Bremer Theaters am Goetheplatz unterzubringen; die Dramaturgie dieser Uraufführung hat Benjamin von Blomberg besorgt.

Es ist eine Geschichte, die nicht nur einen Weltkrieg und einen Völkermord umfasst, sondern auch mehrere kaputte Ehen, familiäre Zerwürfnisse, Insolvenzen, Herzinfarkte, etliche Schlaganfälle, Suchtkrankheiten… Es gibt da eigentlich kaum eine große und kleine Katastrophe, die es nicht gibt.

Das Tempo ist fein kalibriert, immer wieder ziehen Jahre in fast schon nüchternem Erzählton in wenigen Minuten an uns vorbei, bis Zandwijk das Ensemble in die Szenen eintauchen lässt, in denen neben den Dramen auch das lebendig wird, was Joschi und Waltraut immer wieder neuen Mut fassen lässt: die Liebe, die sie füreinander haben und die nicht leicht errungen ist.

Denn 20 Jahre nach dem Holocaust ins Land der Täter zurückzugehen, um zu bleiben – das ist für Guido Gallmanns Joschi, keine leichte Entscheidung. Während Waltraut (Shirin Eissa) sich lange schwertut mit diesem viel älteren Mann, der noch verheiratet ist, als sie sich kennenlernen. Und dem sie sich trotz aller in ihr wohnenden Lebenslust bis zu seinem Ende aufopfert.

„Solange wir leben“ David Safier Regie: Alize Zandwijk. Theater Bremen, Großes Haus, wieder am 15. und 27. 3., 19 Uhr sowie 17. 4., 18 Uhr

Guido Gallmanns Joschi ist in Zandwijks Inszenierung von Anfang an ein alter Mann, der auf unsicheren Füßen steht. Nur manchmal blüht Joschi auf, als er Waltraut kennenlernt, beispielsweise, aber sein Leben hat, das scheint sein Körper zu sagen, schon immer auf unsicheren Beinen gestanden. Shirin Eissa lässt ihre Waltraut dagegen vom Kleinkind bis zur Todkranken alle Lebensstadien in einer bisweilen erschütternden Intensität durchleben.

Gallmann und Eissa sind aber immer auch Teil eines tollen Ensembles, das zum Teil schon sehr lange mit der Regisseurin arbeitet. Susanne Schrader unter anderem als Joschis Mutter Scheindel, Nadine Geyersbach vor allem als Joschis kämpferische Schwester Rosl, Martin Baum als deren Ehemann Jakov etwa sind in sämtlichen Stimmungslagen zwischen Verzweiflung und Euphorie mit Präzision und Spielwitz zu erleben. Während der Multiinstrumentalist und Sänger Matti Weber, der seit einigen Jahren regelmäßig mit Zandwijk arbeitet, das Geschehen auf der Bühne nicht nur handwerklich beeindruckend grundiert.

Für das Bremer Publikum gibt es dann noch jede Menge Lokalkolorit – was für die Geschichte selbst nicht entscheidend sein mag. Aber die Frage, ob oder wann man „zu“ oder „nach Karstadt“ geht, ist sicher hier mehr als anderswo von Bedeutung. Auch wenn sie sich eines Tages nicht mehr stellen mag, denn auch Karstadt ist bekanntlich nicht unsterblich.

Die Geschichte umfasst nicht nur Weltkrieg und Holocaust, sondern auch kaputte Ehen, Insolvenzen, Herzinfarkte

Was an diesem ausladenden Abend, der in keiner Sekunde langweilig wird, aber wirklich bis an die Schmerzgrenze geht, ist das, was auch ein Familienepos wie „Das achte Leben (für Brilka)“ von Nino Haratischwili, das Zandwijk auch schon in Bremen auf die Bühne wuchtete, bietet. Nämlich eine Perspektive. Das Schlusswort hat an diesem Abend der Sänger Matti Weber: Solange wir an jemanden denken, ist er noch nicht wirklich tot.

Gewiss, David Safier – der Sohn, der die so romantische wie traurige Liebesgeschichte seiner Eltern aufschrieb –, hält seine Eltern und die Menschen um sie herum somit lebendig. Zandwijk und das Ensemble des Theater Bremen erwecken sie noch einmal neu. Aber es bleibt doch ein Gefühl dafür, wie fragil der Mensch ist, wie viel Schmerz neben der Freude in so ein Leben passt – und wie wenig von ihm bleibt.

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