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Ein Horn in der Suppe

Die britische Labour-Regierung erhebt seit diesem Jahr Steuern auf private Schulgebühren. Damit sollen Eliteeinrichtungen zur Finanzierung der öffentlichen Bildung beitragen. Doch das trifft auch Kinder mit Lernschwierigkeiten, wie etwa an der Unicorn-Schule

An der privaten Unicorn School haben Kinder mit Lernschwierig­keiten eine weitaus bessere Betreuung als an den staatlichen Schulen Foto: Benjamin Wetherall/Unicorn School

Aus London Daniel Zylbersztajn-Lewandowski

Großbritanniens Privatschulen sind der Labour-Partei schon lange ein Dorn im Auge. Sie stehen aus ihrer Sicht für die extrem ungleich verteilten Bildungschancen im Land. Im Wahlkampf 2024 versprach Labour, Privatschulen künftig stärker zur Kasse zu bitten. Nach dem Erdrutschsieg im Juli hat die neue Labour-Regierung von Premierminister Keir Starmer geliefert: Seit Januar 2025 müssen die knapp 2.500 nichtstaatlichen Einrichtungen in England – Schottland hat ein eigenes Steuer- und Bildungssystem – auf ihre Gebühren eine 20-prozentige Mehrwertsteuer zahlen. Damit sollen künftig jedes Jahr umgerechnet rund 2 Milliarden Euro zusätzlich in die Staatskasse fließen, in diesem Steuerjahr bis Anfang April schon immerhin 554 Millionen Euro.

Bildungsministerin Bridget Phillipson verspricht, die Zusatzeinnahmen in die Verbesserung der staatlichen Schulen zu stecken und 6.500 neue Lehrerstellen zu schaffen. „Wir sind der Meinung, dass es richtig ist, Investitionen in die staatlichen Schulen, dort wo die meisten auf die Schule gehen, zu priorisieren“, sagte Phillipson im Unterhaus.

Auf den ersten Blick sieht das nach klassisch sozialdemokratischer Bildungspolitik aus. Schließlich haben die Ab­sol­ven­t:in­nen von oft elitären Privatschulen in England eine fünfmal so hohe Chance, später in eine Führungsposition zu gelangen. Dass die rund 620.000 Pri­vat­schü­le­r:in­nen im Vergleich zu denen auf staatlichen Schulen privilegiert sind, zeigen zahlreiche Studien.

Bei genauerer Betrachtung ergibt sich jedoch ein differenzierteres Bild. Denn neben Eliteschulen wie das berühmte Eton College mit seinen fast 60.000 Euro Schulgebühren pro Jahr sind auch weniger elitäre Einrichtungen von der neuen Mehrwertsteuer betroffen, darunter Sprach-, Montessori- und Waldorfschulen, humanistische Gymnasien sowie kleinere religiöse Schulen. Aber auch Schulen, die sich auf Kinder mit Lernstörungen wie Legasthenie, Dyskalkulie, Dyspraxie und ADHS spezialisiert haben.

Labour lehnt sich damit an ein inklusives Schulsystem an, wie es die Unesco 1994 in der Salamanca-Erklärung zur Pädagogik für besondere Bedürfnisse festgeschrieben hat. Aber auch bei Labour gibt es Bedenken, ob die Regierung ihre Steuerpläne zu Ende gedacht hat. Die Unterhausabgeordnete Rachel Maskell etwa betonte, dass viele staatliche Schulen derzeit noch viel zu wenige Ressourcen erhielten, um alle Kinder, die besonderen Förderbedarf haben, zu unterstützen, falls jetzt Schüler:innen, deren Eltern sich höhere Gebühren nicht leisten können, in staatliche Schulen wechseln.

Katherine Torrence und ihr Mann können dies nur bestätigen. Ihr achtjähriger Sohn, der Name soll in der taz nicht genannt werden, ist Legastheniker. Das Gutachten dafür haben die Eltern selbst in Auftrag gegeben und bezahlt. Viele Versuche, in London-Islington spezielle Sprachförderung für ihren Sohn auf seiner staatlichen Schule zu erhalten, waren zuvor gescheitert.

Erst mit dem Gutachten erhielt Torrence dann Zugang zu einem Lernprogramm für ihren Sohn – allerdings blieb nahezu die ganze notwendige Unterstützung an ihr hängen. Nach insgesamt drei Jahren Hin und Her sollte ihr Sohn dann an eine andere staatliche Schule überwiesen werden, die aber nach eigener Aussage den Bedürfnissen ihres Sohnes nur teilweise hätte gerecht werden können. „Unser Sohn war todunglücklich und wir hatten Sorge, dass sich das auch auf der neuen Schule nicht ändert“, erzählt Torrence.

Aus diesem Grund meldete sie ihn vor zwei Jahren bei einer Privatschule an, die auf die Lernschwierigkeiten ihres Sohnes spezialisiert ist. Umgerechnet 50.000 Euro müssen sie dafür pro Jahr hinlegen. In diesem Jahr werden es mit der neu eingeführten Mehrwertsteuer, die die meisten Privatschulen auf die Schulgebühren draufschlagen, 60.000 Euro sein.

Die einzige Hoffnung für Katherine Torrence ist ein staatliches Förderprogramm, der sogenannte Education Health Care Plan (EHC) für Kinder mit Lernschwierigkeiten. Damit würde der Staat die Bedürfnisse ihres Sohnes anerkennen und alle Kosten für eine Privatschule übernehmen.

Das Problem dabei: Die allermeisten EHC-Anträge werden erst einmal abgelehnt, obwohl die Hälfte der 103.000 Schü­le­r:in­nen mit Lernschwierigkeiten in englischen Privatschulen ihren zusätzlichen Förderbedarf offiziell nachweisen können. Die Behörden geben Unsummen dafür aus, EHC-Anträge abzuschmettern, nach einem Bericht des Guardian über 120 Millionen Euro im Jahr. Letztlich sprechen die Gerichte den Kindern aber in 98,8 Prozent der Fälle die staatliche Hilfe schließlich doch zu. Trotzdem kommen nur 7.000 Kinder in den Genuss einer EHC-Förderung, ein Bruchteil der Betroffenen.

Auch der Antrag von Torrence und ihrem Mann wurde abgelehnt, der Familie bleibt nur der Rechtsweg. Trotz der finanziellen Belastung glaubt Torrence, die richtige Entscheidung für ihren Sohn getroffen zu haben. „Heute kommt er nach Hause und singt und erzählt uns von seinem Tag, er macht wirklich Fortschritte.“ Er habe sogar entdeckt, dass ihm Mathematik liege.

Andrew Day ist in Oxford der Direktor einer Privatschule für Kinder mit Lernstörungen. Die Unicorn School nimmt gerade mal 120 Schü­le­r:in­nen auf – bei den meisten von ihnen trägt der Staat über das EHC-Programm die Kosten. Doch 30 Kinder hätten keinerlei Aussicht darauf, sagt Schulleiter Day: „Diese Kinder brauchen klar zusätzliche Förderung.“ Ihre Probleme seien aber nicht gravierend genug, als dass der Staat ihre Kosten übernähme.

Er hofft auf eine Aufweichung der Mehrwertsteuerregel zumindest für Schulen wie seine. „Wir haben keine wohlhabenden Eltern hier“, sagt Day. Er könne sich nicht vorstellen, dass die Eltern der 30 Kinder die Kostenerhöhung lange tragen könnten, selbst wenn er alles versuche, die Kosten irgendwie zu senken oder zurückerstattet zu bekommen. Wegen solcher Auswirkungen klagt der Anwalt Paul Conrathe im Auftrag einiger Betroffener gegen den Regierungserlass.

„Die Regierung verstößt mit der Mehrwertsteueränderung gegen Artikel 2.1 und Artikel 14 der Europäischen Menschenrechtskonvention“, sagt Conrathe zur taz. Gemeint ist das Recht auf Bildung ohne Diskriminierung. Die britische Regierung gebe selbst zu, dass das staatliche System nicht richtig funktioniere, dies belegten zudem zahlreiche unabhängige Berichte. Die Entscheidung der Labour-Regierung bedeute, dass mehr Kinder mit Förderbedarf in ein kaputtes System gezwungen würden.

Der Dachverein der Privatschulen (Independent School Council) schätzt, dass etwa 10 Prozent aller Pri­vat­schü­le­r:in­nen durch die eingeführte Mehrwertsteuer nun in staatliche Schulen wechseln. Mancherorts, etwa in Surrey, gebe es an den staatlichen Schulen dafür gar nicht genügend Plätze, warnt der Verband.

Private Schulen in Großbritannien

Im Vereinigten Königreich gab es im Schuljahr 2023/24 1.411 Privatschulen mit rund 557.000 Schüler:innen im

, der nach eigenen Angaben 86 Prozent des nichtstaatlichen Sektors vertritt. Insgesamt zählte das Vereinigte Königreich 32.149 Schulen mit rund 10,63 Millionen Schulkindern. Das Schulwesen ist föderal: England, Wales, Schottland und Nordirland haben jeweils ihr eigenes System.

Im Jahr 2023/24 nahmen Privatschulen durchschnittlich 15.200 Pfund (18.300 Euro) pro Kind ein, Staatsschulen erhielten pro Kind durchschnittlich rund 8.000 Pfund (9.600). Aber weltberühmte Internate wie Eton mit horrenden Gebühren und elitärem Ruf verzerren die Statistik. 681 der 1.411 vom ISC registrierten Einrichtungen sind religiös. Von den Privatschülern gehörten 2024 41 Prozent zu ethnischen Minderheiten, 20 Prozent hatten „special educational needs“, also Lernschwierigkeiten. Staatliche Schulen wurden früher ausschließlich staatlich verwaltet, während der konservativen Regierungszeit von 2010 bis 2024 wurde der Staatssektor auch für private Betreiber geöffnet. D.J.

So rückt mit der Kritik an der Schulreform auch die Qualität des staatlichen Schulwesens ins Zentrum der Debatte. Ein parla­men­tarischer Ausschuss unter Vorsitz des Abgeordneten Sir Geof­frey Clif­ton-Brown stellte Mitte Januar mit Blick auf die Inklusion von Kindern mit besonderen Bedürfnissen gravierende Mängel fest. „Seit Jahren lassen wir unzählige Kinder im Stich“, sagte Clifton-Brown. Er rief die Regierung dringend zum Handeln auf. Ansonsten drohe den Schulen eine „verlorene Generation“.

Der Ausschuss stellte unter anderem fest, dass die Programme und Hilfen für Kinder mit Förderbedarf ein chaotisches System bildeten: voller Bürokratie, stark unterfinanziert und dabei gleichzeitig verschwenderisch. Das Erziehungsministerium entgegnete, dass es auch Fortschritte gebe, unter anderem dank der beschlossenen Investitionen in Höhe von umgerechnet knapp 2,7 Milliarden Euro pro Jahr, knapp die Hälfte davon für Kinder mit Förderbedarf.

Mehr Investitionen für die staatlichen Schulen seien immer begrüßenswert, sagt Joseph Mintz vom UCL-Institute of Education. Der Bildungsexperte betont aber auch, wie wichtig die Initiativen von Eltern und Organisationen seien, die private Schulen gegründet haben, um so speziellen Bedürfnissen bestimmter Kinder mit Lernstörungen gerechter zu werden.

Welche Art von Schule besser sei, sei am Ende eine ideologische Frage, so Mintz. Labour glaube an ein inklusives Schulsystem. Mintz fragt sich aber, ob Privatschulen, in denen die meisten Kinder ein EHC haben und der Staat die Kosten trägt, nicht schon längst als staatliche Schule bezeichnet werden könnten.

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