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Schriftsteller an der FrontSchriftsteller gegen das erzwungene Schweigen

Trotz Krieg bleibt die ukrainische Kunst lebendig. Schriftsteller und Künstler verarbeiten das Grauen der Front und schaffen eindringliche Werke.

Romane im Krieg schreiben ist schwierig Foto: Frank Rumpenhorst/dpa/picture alliance

Wenn die Waffen sprechen, schweigen die Musen: Inter armas silent musae. Diese Wendung aus dem lateinischen nutzte der Kunsthistoriker Wilhelm von Bode Ende des Ersten Weltkriegs mit Blick auf die Künstler und Intellektuellen, die verstummten, als sie in den Krieg zogen. Das trifft wohl auch für die zahlreichen Opfer unter ukrainischen Künstlern zu, die von den russischen Aggressoren, oft ganz gezielt, zum Schweigen gebracht werden. So wie auch die gezielte Zerstörung der ukrainischen Kulturdenkmäler den Versuch darstellen, das kulturelle Gedächtnis der Ukraine auszulöschen.

Der Schriftsteller und Soldat Bohdan Kolomijtschuk verweist auf Parallelen des gegenwärtigen Kriegs zum Ersten Weltkrieg. Und tatsächlich ist es nicht nur das sinnlose Sterben im Stellungskrieg – die Kämpfe um Bachmut vielen als Symbol dafür in Erinnerung – aber auch der Umstand, dass zahlreiche Schriftsteller und Künstler freiwillig als Soldaten in der ukrainischen Armee dienen. Und wie die deutschsprachigen Künstler im Ersten Weltkrieg, so sind auch die Ukrainer im gegenwärtigen Krieg nicht verstummt, sondern ganz im Gegenteil. Sie versuchen, ihre Erfahrungen im Krieg und besonders an der Front künstlerisch zu reflektieren, dem Unfassbaren des Grauens eine Form zu geben, damit es andere erfassen können. Sie schaffen damit nicht nur Zeitzeugnisse, sondern wirkungsvolle Literatur, deren große literarische Bedeutung sich gegenwärtig kaum erfassen lässt – ähnlich wie während und nach dem Ersten Weltkrieg viele mitreißende Werke des literarischen Modernismus der Feder von Kriegsautoren und ihren Reflexionen entstammten.

Artem Tschech war vor dem russischen Angriff auf die Ukraine 2014 ein angesagter Pop-Autor. Mit dem Maidan 2013/14 und seinem Wehrdienst 2015/16 an der Front der Ostukraine änderten sich sein Leben und Schreiben. Seine Erfahrungen aus der ersten Armeezeit finden sich im Prosaband „Nullpunkt“, auf deutsch im Arco Verlag 2022 erschienen. Es folgten weitere Romane, in denen psychische Wunden durch den Krieg thematisiert werden. Seit Februar 2022 ist er wieder in der Armee, an verschiedenen Frontabschnitten, er wurde in Bachmut verletzt.

Bohdan Kolomijtschuk schreibt seit über zehn Jahren höchst erfolgreich historische Prosa und Krimis, seit dem Vernichtungsfeldzug Russlands gegen die Ukraine dient er als Frontsanitäter in der ukrainischen Armee.

Ein Roman im Ausnahmezustand

Artem Tschech, Schriftsteller

Im Dezember 2021 fuhr ich in eine Ferienhütte, um meinen neuen Roman zu beenden. Ich arbeitete bereits neun Monate an dem Text, der langsam und unaufgeregt aus mir wuchs, so wie Grasbüschel durch den Asphalt: „Die Ballade vom freien Weg“ erzählt die Geschichte eines ukrainischen Einwanderers zur Zeit des amerikanischen Bürgerkriegs. Es sollte eine Story über Bewegung und Freiheit sein, über einen Menschen, der stärker ist als seine Vergangenheit. Ein wichtiges Buch, und ich kam langsam zum Finale.

Bis zum großen Angriffskrieg Russlands waren es da noch weniger als drei Monate. Während der einsamen Tage im Ferienhaus dachte ich häufig daran, dass ich wieder die Militäruniform anziehen und in den Kampf ziehen würde. Wie sehr ich diesen Gedanken verabscheute.

Der Krieg rückte ohne Maskerade näher. Und alle meine Ahnungen schienen mir durchaus realistisch. Allzu wirklich. In Erwartung des Kriegs und des großen Leids hatte ich nicht mehr die Kraft und die Moral, den Roman zu beenden. Dann begann der Krieg.

Und die erste Nacht zog herauf. Während meine Frau und mein Sohn im Flur saßen und versuchten, trotz des unerträglichen Geheuls der Sirenen und des Getöses der Explosionen, sich zu beruhigen, ja, sogar ein wenig zu schlafen, akzeptierte ich schließlich die Möglichkeit, im Krieg zu sterben, als eine quasi sichere Sache, als unabwendbare Tatsache. Und diese Akzeptanz beruhigte mich, machte mich mutiger, stärker und ausgeglichener.

Und mein Roman, den ich so lange ausgetragen hatte, verwandelte sich augenblicklich in einen Schatten. Er flackerte noch hier und da in meinen Gedanken, versuchte sich hin und wieder zu realisieren, doch in der neuen Realität gab es keinen Platz mehr für ihn. Ich glaubte noch an ihn, aber dieser Glaube wurde schwach. Ich schickte das Manuskript als E-Mail-Anhang an meine Frau und meinen Verleger. Für alle Fälle, um ihn zu retten. Auch Schriftsteller sterben schließlich – besonders als Soldaten.

Ich hoffte, auch in der Armee weiterschreiben zu können. Aber die Realität des Kriegs lässt keinen Raum für Fiktion. Der Krieg ist zu laut, er übertönt all deine inneren Stimmen, bis auf die eine, die dir zuruft: Überleb!

Zu Beginn versuchte ich, mir wenigstens Notizen zu machen, bruchstückhaft etwas aufzuschreiben, einzelne Sätze, bis ich verstand, dass es vergeblich war. Über einen Weg lässt sich nicht schreiben, wenn man auf der Stelle tritt. Über eine Flucht lässt sich nicht schreiben, wenn deine einzige Aufgabe ist – die Position zu halten.

Wie soll man auch schreiben, wenn einen die Anspannung fest im Griff hat, wenn man kaum mehr Luft schnappen kann und das Gefühl überwiegt, dass in einem einzigen Moment der ganzen Welt das Licht abgedreht wurde?

Und dann kam der schwarze Graben des Fleischwolfs Bachmut. Schwarz und grau wie ein Grab. Der Wind wehte den Rauch der sengenden Stadt zu uns, und die Körper unserer Soldaten lagen im hohen Mai-Gras, und die russische Armee goss unaufhörlich Feuer und Eisen über uns aus.

Ich dachte in diesem Graben oft an den Roman. Ich machte mir Vorwürfe, weil ich ihn im Winter nicht zu Ende geschrieben hatte. Was möglich gewesen wäre, ich hatte es jedoch nicht geschafft. Und die Wahrscheinlichkeit, ihn unvollendet zurückzulassen, peinigte mich, und ich hasste mich zunehmend für diese Faulheit und Inkonsequenz. „Aber was denn für einen Roman?“, dachte ich dann wieder, „und überhaupt, welche Kunst denn? Überleben! Das Einzige, was Du jetzt fertigbringen musst, ist: Überleben!“ Und ich überlebte.

Mein unvollendeter Roman lebte lange eineinhalb Jahre mit mir, er wartete, bis der Krieg enden wird, bis ich zu ihm und zu meinem früheren Ich zurückkehren würde. Doch würde dieses frühere Ich überhaupt imstande sein, über einen „freien Weg“ zu schreiben mit dem Wissen, wie leicht dieser verschütt gehen kann. Ich war nicht überzeugt.

Später dann, als ich Urlaub bekam und wieder in die Ferienhütte fuhr, konnte ich den großen Roman über den damaligen Krieg mit den Erfahrungen unseres Krieges beenden. Ich schrieb leicht und schnell, als hätte es diese schrecklich lange Pause nicht gegeben. Am Ende sind alle Kriege gleich, denn sie bringen Tod, Schmerz und Trauer auf die gleiche Weise.

Ich schrieb auf, was ich gesehen hatte, ich beutete ganz ungeniert meine Erfahrungen aus. Mir ist nichts mehr peinlich! Und als Schriftsteller schäme ich mich für fast nichts mehr. Dieser Krieg nahm mir das Wichtigste: Die Zeit und die Möglichkeit zu arbeiten. Dafür hasse ich ihn am meisten.

Mein Freund Katczinsky

Bohdan Kolomijtschuk, Schriftsteller

Ich bin in einem relativ reifen Alter in die Armee eingetreten. Im Februar 2022 war ich gerade 38 Jahre alt geworden. Mir gefiel die Alterskategorie „unter vierzig“. Die Uni hatte ich schon lange hinter mir, ebenso die Arbeitssuche und die Suche nach einem Verleger, der meine literarischen Arbeiten interessant fände. Ich hatte mich kopfüber ins Schriftstellerdasein gestürzt und vor jenem denkwürdigen Winter 2022 bereits einige Romane publiziert.

Am Beruf des Schriftstellers gefällt mir eigentlich alles: Die Arbeit am Manuskript, wenn ich tagelang nicht aus dem Haus komme, die Recherchen und selbst die Deadline des Lektors, die mich zu Disziplin zwingt und mich mit freudiger Erwartung auf das entstehende Buch erfüllt.

Der Mensch ist dann wahrhaft frei, wenn er seine Freiheit selbst einschränkt. In der Armee opferte ich als erstes meine Freiheit. Noch bevor ich an die Front verlegt wurde, wurmte mich am meisten, dass die vierundzwanzig Stunden des Tags nun nicht mehr mir gehörten, sondern jemandem, der dem militärischen Rang nach älter als ich war. Und dieser war nun Herr über meine Zeit.

An der Front vermisste ich Ruhe und Einsamkeit am meisten. Wenigstens einige Stunden der Stille ohne Explosionen, um für mich zu sein, um meine Gedanken zu sammeln. Die wenigen damaligen Texte schrieb ich unter dem Einfluss einer immensen Geräuschkulisse: fernes Artilleriefeuer und Artilleriefeuer ganz in der Nähe, das Stimmgewirr der Kameraden um mich herum, das Rauschen und Pfeifen der Funkgeräte. All das in einem alten verlassenen Kellergewölbe, wo wir unser Lager aufgeschlagen hatten.

„Ein Remarque würdiges Arbeitszimmer“ witzelte ich, auch wenn es damals meist nicht sehr witzig war. Die Ironie der Geschichte liegt darin, dass der Krieg vor hundert Jahren und der jetzige sich im Grunde kaum unterscheiden. Das Einzige, wodurch sie sich unterscheiden, ist der Technisierungsgrad der Armeen, die Bewaffnung ist moderner und tödlicher. Freilich können die Armeen heute wie vor hundert Jahren nur jenes Territorium besetzen, wo ihre Pioniere Schützengräben gebuddelt haben. Wenn ich so überlege, habe ich mit den Protagonisten aus Erich Maria Remarques berühmten Anti-Kriegsroman „Im Westen nichts Neues“ mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede. Die gleichen Gefahren, das Gefühl vom Rest der Welt losgelöst zu sein und sogar das gleiche kleine Soldatenglück: eine trockene Uniform, annehmbare Verpflegung, ein bequemes Bett.

Ich gehe in Gedanken die Protagonisten des Romans durch. Und es stellt sich heraus, dass ich und Katczinsky (Kat) gleich alt sind. Ein erfahrener Soldat, der für den jungen Paul Stütze und Hilfe war. Freilich besteht unsere gegenwärtige Armee schon längst nicht mehr aus 18 bis 20-Jährigen. Das Durchschnittsalter eines ukrainischen Soldaten an der Front liegt über 40 Jahren. Das heißt also, eigentlich lachhaft, ich bin ein „junger Kämpfer“.

Und unsere Katczinskys hier haben gut 50 Jahre auf dem Buckel. Es sind kräftige, im Vergleich zu den andern vielleicht etwas langsamere, Männer mit rissigen Händen und zahlreichen Spitalaufenthalten. Ein Glück, wenn man so jemanden in seiner Einheit zu Beginn der Dienstzeit hat. Ein Glück, wenn er dein Freund wird.

Am dritten Jahrestag des vollumfänglichen und vollidiotischen Kriegs habe ich als Schriftsteller nichts vorzuweisen außer einiger nicht geschriebener Bücher und Absenzen auf Buchmessen und Festivals. Erstaunlicherweise ist unser Land dank der Armee und der Unterstützung unserer Partner nicht von der Landkarte verschwunden, obwohl die Chancen 2022 nicht gut für uns standen.

Krieg ist trotz all seiner höllischen Dynamik ein ziemlich monotoner und öder Prozess. Immer wenn ich mich für ein Interview bereit erkläre, ertappe ich mich, dass ich den Journalisten nichts Besonderes zu sagen habe. Hier an unserer Front ist alles unverändert. Im Osten nichts Neues.

(Aus dem Ukrainischen von Alexander Kratochvil)

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