Häusliche Gewalt gegen Kinder: Nur weg von zu Hause
Was tun, wenn die Eltern schlagen? Wie ausziehen, ohne 18 zu sein? Wen solche Fragen beschäftigen, bekommt Hilfe. Doch Jugendämter sind überlastet.
Soll sie zum Jugendamt? Judith ist sich nicht sicher. Eigentlich möchte sie nur, dass das alles aufhört, ihre Familie eine ist wie alle anderen. Oder ausziehen, ohne dass daraus „eine große Sache“ wird, ohne Hilfe anderer, vor allem ohne Jugendamt oder Gerichtsverhandlung. Sie hat Angst, dass sie etwas lostreten könnte, von dem sie nicht weiß, welche Folgen es haben könnte. Wird man ihr überhaupt glauben? Müsste sie ihre Eltern anzeigen? Wie würden diese reagieren?
Judith ist kein Einzelfall in Berlin. Schon 2022 melden Jugendämter in Berlin und Brandenburg mehr als 28.000 Verfahren wegen Kindeswohlgefährdung, seitdem sind die Fälle weiter gestiegen. In der letzten Kriminalstatistik für 2023 erfasst die Berliner Polizei einen Anstieg von bis zu 17 Prozent, wobei die meisten Übergriffe nicht erfasst bleiben, da sie nicht angezeigt werden. Viele Jugendliche nämlich leiden unter häuslicher Gewalt und melden sie nicht. Aus Unsicherheit, Unwissen und Angst. Und schon der erste Schritt, ob man Hilfe sucht, ist für sie sehr belastend. Genau so geht es Judith.
Aber sind ihre Befürchtungen berechtigt? Jugendstadträtin Carolina Böhm (SPD) aus Steglitz-Zehlendorf erklärt, dass das Jugendamt viele Möglichkeiten hat, Familien in schwierigen Situationen zu helfen, zum Beispiel durch Familientherapie oder aufsuchende Familienhilfe. Gewaltopfer können in der Gewaltschutzambulanz der Charité ihre Verletzungen kostenfrei rechtsmedizinisch untersuchen und dokumentieren lassen, ganz gleich, ob sie sich für oder gegen eine Anzeige bei der Polizei entscheiden.
„Das Jugendamt ist nicht für die Strafverfolgung zuständig, sondern nur für Unterstützungsmaßnahmen für die Kinder und deren Familien“, sagt Böhm. „Selbst wenn ein Kind in Obhut genommen wird, werden weitere Gespräche mit den Eltern geführt und Unterstützungsmaßnahmen angeboten.“ Die Strafverfolgungsbehörden würden nur dann tätig, wenn sie Kenntnis von Straftaten erlangen. „Wenn der/die Minderjährige eine Weitergabe dieser Informationen nicht möchte, unterliegt das Jugendamt dem besonders starken Sozialdatenschutz.“ Und bei Kinderschutzverfahren würden natürlich alle Familienmitglieder einbezogen und ermutigt, sich zu äußern, auch getrennt voneinander.
Kinder können in Obhut genommen werden
Eine Anzeige ist also keine Voraussetzung für ein familiengerichtliches Verfahren. Was aber, wenn der Konflikt nicht gelöst werden kann? „Die Minderjährigen werden dann entweder in stationären Jugendhilfeeinrichtungen, in betreuten Wohngemeinschaften oder im betreuten Einzelwohnen untergebracht“, sagt Carolina Böhm. Und für sehr kleine Kinder stünden in der Regel Pflegefamilien bereit.
Und Judith? Könnte sie nicht einfach ausziehen? Die rechtliche Situation ist klar. Wer 18 Jahre ist, ist ohnehin volljährig und kann tun und lassen, was er oder sie will. Aber auch schon mit 16 ist es möglich, aus dem Elternhaus auszuziehen. Vorausgesetzt, es gibt eine Genehmigung und Unterstützung der Eltern.
Das hat Judith versucht, doch ihre Eltern haben Nein gesagt. Will sie wirklich weg von zu Hause, bleibt ihr tatsächlich nur der Gang zum Jugendamt. Das kann sie um eine sogenannte Inobhutnahme bitten. „Das kommt immer wieder vor“, erzählt Carolina Böhm. Kinderschutzmeldungen würden unverzüglich bearbeitet. Je nach Schwere des Vorwurfes findet ein Hausbesuch statt. Auch beteiligte Fachkräfte wie zum Beispiel Lehrerinnen, Erzieher und Ärzte würden befragt. „Wenn sich der Verdacht erhärtet“, so Böhm, „kommt es zu einer Inobhutnahme.“
Aber der Gang zum Jugendamt ist nicht die einzige Möglichkeit, Hilfe zu finden. Von Freund*innen hat Judith gehört, dass es auch andere Hilfsangebote gibt. Zum Beispiel beim Kinderschutzbund Berlin oder der „Nummer gegen Kummer“.
„Unsere Beratung steht allen Menschen zur Verfügung, die sich Sorgen um Kinder machen und eben auch Kindern, denen es nicht gut geht und die sich Hilfe wünschen“, sagt Sabine Bresche, die für den Kinderschutzbund Berlin arbeitet. Auf Wunsch gäbe es die Möglichkeit, die Gespräche anonym zu führen, am Telefon oder bei einem persönlichen oder einem Online-Termin. Im Mittelpunkt stehe immer das betroffene Kind, das aktiv mit einbezogen würde, um die Situation zu verstehen und dann gemeinsam eine Lösung zu finden.
Auch Nummer gegen Kummer ist ein kostenloses telefonisches Beratungsangebot für Kinder, Jugendliche und Eltern. Nora Malmedie beschreibt es so: „Für viele Ratsuchende geht es lediglich darum, in einem geschützten Rahmen über ihre Erlebnisse zu sprechen.“ Deshalb wolle man den Ratsuchenden Raum geben, um sich zu öffnen. Gerade wenn es um Gewalterfahrungen geht, ist oft die Wahrung der Anonymität für viele Kinder und Jugendliche wichtig. So auch für Judith.
Es gebe auch die Möglichkeit, dass Jugendliche von Gleichaltrigen beraten werden. Geholfen wird dabei, Personen im Umfeld anzusprechen oder Anlaufstellen in der Umgebung zu finden. „Die Beratung erfolgt immer nach dem Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe: Ratsuchende werden in einer Krisensituation ermutigt, eigenständig nächste Schritte zu gehen“, sagt Malmedie.
Jugendeinrichtungen am Limit
Doch nicht nur viele Jugendliche befinden sich in einer Krisensituation, sondern auch die Berliner Jugendeinrichtungen. Oft sind sie mit ihrer Arbeit am Limit. Bereits 2023 teilte der Deutsche Berufsverband für Soziale Arbeit (DBSH) mit: „Die Situation in den Jugendämtern ist unverändert katastrophal! Seit über 10 Jahren weisen Berlins Fachkräfte, Jugendamtsleiter*innen, Mitglieder der Jugendhilfeausschüsse und Fachverbände auf akute Missstände im Bereich der Berliner Kinder- und Jugendhilfe hin. Sie rufen um Hilfe.“
Seitdem hat sich die Situation eher verschlechtert.
Das bestätigen zahlreiche Einrichtungen der Jugendhilfe. „Wir haben in den letzten Jahren mit steigenden Zahlen zu tun“, sagt Sabine Bresche, „sind aber mit unseren Kapazitäten schon lange an der Grenze.“ Verena Bieler vom DBSH fasst die Situation so zusammen: Aktuell seien 136 Vollzeitstellen in den Berliner Jugendämtern unbesetzt. Hinzu komme die hohe Fluktuation des Personals, denn die Belastung sei enorm. Viele der Fälle würden immer komplizierter, weil präventive Angebote kaum noch möglich seien oder weggekürzt würden. Daher seien Familien lange ohne Hilfe und Probleme spitzten sich zu.
Hinzu käme, dass es zu wenig stationäre Unterbringungsmöglichkeiten in Berlin gäbe. Viele Wohngruppen müssten schließen. Das läge nicht nur an zu wenig Personal bei den freien Trägern, sondern auch an zu hohen Mieten, die eine Anmietung von Immobilien erschwerten. Auch wenn der Senat an langfristigen Strukturen arbeite, dauere das zu lange und komme in der Praxis nicht unmittelbar an.
Auch Jugendstadträtin Carolina Böhm sieht die Situation kritisch. Obwohl in ihrem Amt die Mittel nicht gekürzt wurden, wäre eine größere Zuwendung wünschenswert. „Aufgrund des gesellschaftlichen Wandels fällt es Eltern, unabhängig von ihrem sozialen Status oder Einkommen, immer schwerer, die Erziehung allein zu bewältigen“, sagt sie. „Selbst bei einer gleichbleibenden Fallzahl wäre die Belastung für unsere Mitarbeiter/-innen im Vergleich zu früher wesentlich höher, weil die Problemlagen komplexer geworden sind.“
Der DBSH warnt, „dass radikale Gruppierungen an Stelle der Sozialarbeiter*innen treten und sich der Jugend annehmen“, und weist dabei auf den Rechtsruck in Deutschland hin, der besonders bei jungen Menschen zu beobachten sei.
„Jugendliche werden alleine gelassen mit ihren Problemen und haben keine Orte mehr für einen geschützten Austausch oder niedrigschwellige Unterstützung“, meint Verena Bieler. Dadurch würden die Probleme eher größer und kämen später wieder: In Form von Kriminalität, Arbeitslosigkeit oder psychischen Krankheiten. Auch die Kosten für den Staat würden damit steigen. Doch bei den derzeitigen Kürzungen im Berliner Haushalt gibt es nicht viel Hoffnung auf eine Verbesserung.
Judith weiß nicht, was als nächstes kommt. Doch sie weiß, sie wird sich Hilfe suchen.
Die Autorin ist 14 Jahre alt und war Schülerpraktikantin im Berlinteil der taz.
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