piwik no script img

Mediziner zur E-PatientenakteForschung beginnt mit Fragen

Mehr Daten, bessere Forschung? Die elektronische Patientenakte soll beides bringen. Wie realistisch das ist, weiß Medizinexperte Jürgen Windeler.

Hausarztpraxis in Mecklenburg Vorpommern Foto: Frommann/laif
Interview von Svenja Bergt

taz: Herr Windeler, der Gesundheitsminister will mit der ­elektronischen Patientenakte (ePA) den Forschungsstandort Deutschland auf ein neues Level heben. Ist diese Hoffnung berechtigt?

Jürgen Windeler: Hoffnungen sind so eine Sache. Es spricht jedenfalls nicht viel dafür, dass man mit diesen Daten den Forschungsstandort Deutschland wirklich voranbringen kann. Jedenfalls dann nicht, wenn man Forschung betreiben will, die wirklich einen Mehrwert für die Patienten bedeutet.

Bild: Andrea Kamphuis
Im Interview: Jürgen Windeler

ist Arzt und Professor für Medizinische Biometrie und Klinische Epidemiologie, leitete von 2010 bis 2023 das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG).

taz: Warum nicht?

Windeler: Für ernsthafte Forschung braucht es mehr als einen großen Datenhaufen, der völlig unstrukturiert und unvollständig ist und der nicht einmal aktuell sein muss. Aber die Daten aus den elektronischen Patientenakten sind genau so ein Datenhaufen.

taz: Sie meinen, der Datenpool ist aus Forschungssicht zu nichts zu gebrauchen?

Windeler: Bestimmt gibt es Fragen, die man auch mit diesen Daten versuchen kann zu beantworten, etwa zur Häufigkeit von Diagnosen. Aber bereits hier gibt es Grenzen: Gerade Menschen mit sensiblen Diagnosen, zum Beispiel HIV oder psychische Erkrankungen, werden vermutlich überproportional häufig der Akte oder der Speicherung der Diagnose darin widersprechen. Dazu kommt, dass auch gespeicherte Diagnosen nicht stimmen müssen. Wenn ein Arzt meint, dass ein bestimmtes Medikament seinem Patienten hilft, das aber nur bei einer bestimmten Diagnose verordnet werden darf, dann kommt es vor, dass er diese Diagnose aufschreibt – auch wenn sie nicht genau zutrifft.

taz: Das sind aber keine entscheidenden Fragen?

Windeler: Für die wirklich entscheidenden Fragen lassen sich diese Daten nicht mal ansatzweise nutzen. Welche Methoden und Behandlungsansätze sind eigentlich nutzbringend? Da geht es nicht nur um Medikamente, sondern um alle möglichen Dinge von Operationsverfahren bis Psychotherapie. Und da kann man nicht einfach in die ePA gucken. Sondern man braucht bestimmte wissenschaftliche Methoden, zum Beispiel Vergleichsgruppen und gesichert korrekte Daten.

Die elektronische Patientenakte

Diagnosen, Dokumente, etwa Röntgenbilder, und perspektivisch auch weitere Daten wie der Impfpass – all das müssen Ärz­t:in­nen in die elektronische Patientenakte einstellen, so der:­die Versicherte nicht widersprochen hat. Auf die Akte können andere Be­hand­le­r:in­nen zugreifen. Zudem fließen die enthaltenen Daten standardmäßig in ein Forschungsdatenzentrum, wo sie von Forschenden aus Wissenschaft und Industrie auf Antrag genutzt werden können. Bundesweit soll das System dann starten, wenn es in den Modellregionen, in denen es derzeit erprobt wird, stabil läuft. Eine entsprechende Prüfung ist laut der Digitalagentur Gematik Mitte März geplant. Bei positiven Erfahrungen in den Regionen sei eine bundesweite Einführung ab April möglich.

taz: In der Pandemie gab es immer wieder Kritik: Deutschland habe auf epidemiologische Daten aus anderen Ländern zurückgreifen müssen, zum Beispiel aus Israel und Großbritannien. Ist da was dran?

Windeler: Ja. Andere Länder haben Gesundheitsdaten viel umfangreicher und strukturierter vorliegen – zum Beispiel in Skandinavien, wo es auch eine ganz andere Kultur bei der Offenheit von Daten gibt. Die Kultur hierzulande lässt sich aber nicht einfach durch Verordnungen ändern, und das ist auch nicht das Entscheidende.

taz: Sondern?

Windeler: Das Entscheidende ist nicht, dass wir keine Daten hatten, sondern dass wir keine Fragen hatten.

taz: Wie meinen Sie das?

Windeler: Man hat in Deutschland nicht ernsthaft versucht, die Dinge, die man meinte zu wissen, zu hinterfragen – und dieses Wissen dann mit Daten zu unterfüttern. Dabei wäre das aber durchaus möglich gewesen. Es gibt zum Beispiel die Nationale Kohorte, das ist Deutschlands größte Langzeitstudie im Gesundheitsbereich mit über 200.000 Teilnehmenden. Deren Daten und die bestehende Struktur hätte man dann dafür nutzen können.

taz: Welche Fragen hätte man stellen müssen?

Windeler: Um bei der Pandemie zu bleiben – hier hätte man die wichtige Frage stellen müssen: Wer ist eigentlich infektiös? Wir haben uns darauf beschränkt, nachzuweisen, wer infiziert ist und die Menschen isoliert, wenn man das Virus nachweisen konnte. Das ergibt auch erst mal Sinn, aber man hätte auch klären müssen, wann Infizierte auch infektiös sind und wann eine Isolation notwendig ist. Aber auch über die Pandemie hinaus läuft es nicht gut in unserem Gesundheitssystem.

taz: Was macht denn zum Beispiel Dänemark besser?

Windeler: Sehr viel. Zum Beispiel, was die digitale Kultur, das Vertrauen in das System und den soliden Pragmatismus, auch in der Pandemie, angeht. Dänemark hat als Staatsziel formuliert, dass sie klinische Forschung voranbringen wollen, und sie sind damit europaweit sehr erfolgreich. In Deutschland fehlt dagegen schon das politische Verständnis, dass Forschung mit Fragen beginnt. Der nächste Schritt ist dann, die passende Methode für die Fragestellung zu finden. Und erst dann kann man anfangen, über Daten nachzudenken. Aber klar – wenn man Fragen stellt, kann es sein, dass man Antworten bekommt, die einem nicht so gut gefallen.

taz: Zum Beispiel?

Windeler: Zum Beispiel Antworten darauf, wo es in unserem Gesundheitssystem abgesehen von den gravierenden Strukturproblemen hakt. Wo zum Beispiel Behandlungsmethoden weit verbreitet sind, die nichts bringen oder kaum etwas. Und meine große Befürchtung in Sachen ePA ist, dass die Politik jetzt denkt, ach, wir haben ja ganz viele Daten, alles ist prima – und dann die zielorientierte, gute, aussagefähige Forschung noch weiter aus dem Fokus gerät. Der Gesundheitsminister hat kürzlich gesagt, mit der ePA würden zehntausende Leben gerettet. Das ist natürlich ein Wolkenkuckucksheim.

taz: Jetzt könnte man sagen, Deutschland ist vielleicht in anderen Forschungsbereichen stärker, dafür im medizinischen Bereich nicht so sehr. Warum brauchen wir das auch hier?

Windeler: Jedes Gesundheitssystem braucht Antworten auf diese Fragen, und sie sollten nicht nur von Studien aus anderen Ländern kommen. In der medizinischen Grundlagenforschung und bei Studien an Unikliniken, die die Pharmaindustrie zur Zulassung von Medikamenten durchführt, ist Deutschland gar nicht so schlecht. Aber das hat mit eigener Forschung und eigenen Fragen nicht so viel zu tun. Deutschland ist sehr entwicklungsbedürftig dort, wo es darum geht, zu bewerten und zu untersuchen, was bestimmte Medikamente oder auch einfach nur bestimmte Vorgehensweisen in der Praxis wirklich bedeuten.

taz: Was könnte besser laufen?

Windeler: Vor einem halben Jahr ist eine große Studie aus Großbritannien erschienen. 332 Hausarztpraxen, fast 14.000 Patienten und die simple Forschungsfrage: Was ist bei einer einfachen Erkältung eigentlich am besten: Gar nichts machen? Kochsalzlösung in die Nase sprühen? Oder ein befeuchtendes Nasenspray auf Gelbasis? Oder hilft am besten eine Anleitung, wie man die köpereigene Abwehr stärkt, zum Beispiel mit einer besseren Stressbewältigung? Die Studie war sehr gut gemacht, es gab vier randomisierte Gruppen, also wurden die Patienten zufällig den Gruppen zugeordnet. Es sind solche Studien, die wirklich auf breiter Basis die Versorgung verbessern können. So was wird in Deutschland bisher einfach nicht gemacht – und das wird sich auch mit der ePA nicht ändern.

taz: Für alle, die gerade unter einer Erkältung leiden: Was ist rausgekommen?

Windeler: Am besten ist, ein Nasenspray ohne Wirkstoff zu verwenden, am günstigsten einfach Kochsalzlösung.

taz: Wenn wir es also schaffen würden, in Deutschland eine andere Forschungskultur zu etablieren, dann würde das Gesundheitssystem besser werden und wahrscheinlich auch billiger?

Windeler: Was billiger angeht – so weit würde ich mich nicht aus dem Fenster lehnen. Und das finde ich auch nicht so entscheidend. Aber möglichst vieles sorgfältig zu prüfen – wie im britischen Beispiel – und das Gute zu behalten, macht natürlich die Versorgung besser. Und deswegen brauchen wir solche Forschung auch hier. Schließlich sind die Behandlungsansätze und Therapien nicht in jedem Land gleich.

taz: Auch wenn Sie kritisieren, die ePA-Daten seien unstrukturiert und wenig hilfreich – laut dem Gesundheitsminister haben Big-Tech-Konzerne wie Google oder Meta trotzdem Interesse, mit ihnen zu arbeiten.

Windeler: Ich befürchte, den meisten Menschen ist überhaupt nicht klar, was mit den Daten aus ihrer ePA passiert. Also: Die werden pseudonymisiert – also ohne Namen – in ein deutsches Forschungsdatenzentrum überspielt. Dort kann sie jeder, der einen Antrag stellt und den bewilligt bekommt, nutzen, eben auch Firmen. Nach welchen Kriterien diese Anträge entschieden werden? Das ist unklar. Die Daten werden außerdem perspektivisch in einen europäischen Datenraum geleitet, damit Akteure in ganz Europa damit arbeiten können. Und es gibt Überlegungen, dass diese Daten auch in transatlantischer Kooperation genutzt werden sollen – also in die USA gehen.

taz: Wie haben Sie denn in Sachen ePA entschieden?

Windeler: Ich habe nach sorgfältiger Abwägung widersprochen. Aber das muss jede und jeder nach sorgfältigem Informieren selbst abwägen. Deswegen wäre es wichtig, dass die Versicherten umfangreich und ausgewogen von den Krankenkassen oder auch in der Presse informiert werden – und dass das nicht passiert, ist wirklich problematisch.

Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen

Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

2 Kommentare

 / 
  • Die Argumente lesen sich unstrukturiert 😉 und unklar.

    Die Daten sind nutzlos weil unstrukturiert und z.T. von Hausärzten mutwillig gefälscht??? Krass!



    Die ePA gibt keine Information zu nutzbringenden Behandlungsmethoden??? Natürlich nicht, denn das wäre der nächste Schritt in der Digitalisierung der medizinischen Versorgung und Forschung.

  • Wichtigster Satz und größte gefahr für Patienten: "Dazu kommt, dass auch gespeicherte Diagnosen nicht stimmen müssen. "