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Exotismus, feministisch überschrieben

Teodor Currentzis und Utopia gastierten mit Henry Purcells Semi-Oper „The Indian Queen“, in einer modernisierten Fassung von Peter Sellars, in der Philharmonie

Von Katharina Granzin

Mit der sogenannten Semi-Oper beschritt die englische Musikszene im 17. Jahrhundert zeitweilig einen Sonderweg. In dieser dramatischen Form wechselte Gesang mit Gesprochenem ab, Tanz- und Instrumentalnummern kamen hinzu. Henry Purcell schrieb mehrere Semi-Opern, konnte aber die letzte, „The Indian Queen“, vor seinem frühen Tod nicht vollenden. Das hinterlassene Fragment hat sich als Steilvorlage für Peter Sellars erwiesen, der den exotistischen Stoff unter Verwendung eines Romans der Autorin Rosario Aguilar in eine feministische Saga über die frühe Kolonialzeit verwandelt hat. Sellars hat eine erzählende Sprechrolle eingefügt und das musikalische Material um etliche populäre Purcell-Arien ergänzt.

Teodor Currentzis und sein international besetztes Orchester Utopia (im Herbst 2022 gegründet, nachdem es viel schlechte Presse gegeben hatte wegen Currentzis’ russisch finanzierten Orchesters musicAeterna und seines Schweigens zum Ukrainekrieg) brachten Sellars’ Version 2023 auf den Salzburger Festspielen zur Aufführung. An diesem Montag war die Produktion in der Philharmonie zu erleben.

Currentzis hat für die Berliner „Princess“ einen neuen internationalen Cast mitgebracht, die Besetzung der weiblichen Hauptrolle aber bleibt dieselbe wie in Salzburg. Die südamerikanische Prinzessin Teculihuatzin, die an einen spanischen Eroberer verheiratet wird, wird gesungen von der aus Trinidad stammenden Sopranistin Jeanine de Bique. Eine Erzählerin, mitreißend gesprochen von Amira Casar, vermittelt in Ich-Perspektive aus Sicht von drei verschiedenen Frauen das Geschehen, während die Singenden die inneren Zustände der Figuren musikalisch mit Leben füllen. Unter den sämtlich eindrucksvollen SolistInnen fällt der erst 24-jährige Sopranist Dennis Orellana auf mit seiner einzigartigen Stimme, die, sehr überraschend, nicht wie die eines Countertenors, sondern ganz wie ein weiblicher Sopran klingt und dabei sehr beweglich und leicht geführt ist. Absolut überragend aber ist die Performance von Jeanine de Bique. In jedem der vielen barocken Schnörkel ihrer Partie scheint die ganze Seele ihrer Figur, in jeder musikalischen Geste eine Welt voll Bedeutung zu liegen.

Currentzis entlockt der Partitur Kontraste, wie sie extremer kaum ausführbar wären

Um Gesten im konkreten Wortsinne ist diese Produktion nicht verlegen, vor allem in Bezug auf das sehr involvierte Dirigat des Maestros, der besonders zu Beginn des Abends bestrebt scheint, dem Orchester sogar kleinste Verzierungen pantomimisch vorzuspielen. Als SängerIn braucht man vermutlich sehr viel (Selbst)vertrauen, um mit Currentzis’ Eigenart um­gehen zu können, die SolistInnen während der Arien oft aus nächster Nähe mit so fordernd expressiven Gesten zu dirigieren, als sei der singende Mensch nur eine klingende Marionette am Faden. Doch wenn bei dieser Form der suggestiven Außenlenkung die Grenze zwischen hoch­expressivem Wohlklang und forcierter Überbetonung hin und wieder angekratzt wird, ist das wohl genau das, was Currentzis will. Er entlockt der Partitur Kontraste, wie sie extremer kaum ausführbar wären, kann das Orchester, supersanft-säuselnd, an die Schwelle zur Unhörbarkeit führen, um anderswo rauestmögliche Kantigkeit zu fordern. Das alles ist fantastisch und mit absoluter Hingabe musiziert, aber der unbedingte Wille zum größtmöglichen innermusikalischen Drama ist jederzeit spürbar.

Im ansonsten herrlich feingetunten Chor ist der Sopran etwas übergewichtet besetzt, was den Effekt dramatischer Narration verstärkt, aber zu Lasten der Ausgewogenheit des barocken Klanggefüges geht. Nein, ein Purist ist Currentzis nicht. Aber puristisch können andere auch, und was er macht, traut sich sonst keiner. Das besondere Erlebnis dieses Abends – über dreieinhalb Stunden musikalische Hochspannung! – wäre aber womöglich noch eindrücklicher gewesen, wenn man dem Publikum ein paar Übertitel spendiert hätte. Gesungener Text ist eh in der Regel unverständlich, und sicher gab es unter den Anwesenden etliche, die auch dem englischen Sprechtext nicht gut folgen konnten.

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