: Würfeln ginge auch
Prognosen für einzelne Bundestagswahlkreise sind mit größter Vorsicht zu genießen. Außer dort, wo ohnehin immer das Gleiche gewählt wird
Von Pascal Beucker
Eine Prognose gefällig, wer die meisten Erststimmen im Bundestagswahlkreis Weilheim holen wird? Kein Problem: Es wird der CSUler Alexander Dobrindt sein. Wer macht das Rennen im Wahlkreis Rottweil-Tuttlingen? Selbstverständlich die CDUlerin Maria-Lena Weiss. Wer Duisburg II gewinnen wird? Der SPDler Mahmut Özdemir. Woher die taz das jetzt schon weiß?
Nun ja, es ließe sich jetzt auf Webseiten wie wahlkreisprognose.de oder zweitstimme.org verweisen, die vorgeben, prognostizieren zu können, wer bei der Bundestagswahl am Sonntag in einem Wahlkreis die Nase vorne hat. Oder auf das Meinungsforschungsinstitut YouGov, das behauptet, zumindest aktuelle Stimmungslagen in Wahlkreisen angeben zu können. Aber es ist viel einfacher: In den drei genannten Wahlkreisen hat seit Gründung der Bundesrepublik immer mit Abstand der Kandidat oder die Kandidatin der gleichen Partei gewonnen. Und das wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch diesmal so sein.
Schwieriger wird es hingegen in Wahlkreisen, die nicht so eindeutig festgelegt sind. Da gewinnen Projekte wie wahlkreisprognose.de oder zweitstimme.org, aber auch YouGov an Attraktivität. Zeitungen greifen vermeintlich nahende Überraschungen an diesem oder jenem Ort auf. Passende Vorhersagen machen sich Wahlkämpfer:innen zunutze. Das Problem: So wirklich seriös ist das alles nicht. „FDP-Chef vor Direktmandat“, behauptete beispielsweise im Vorfeld der Bundestagswahl 2021 wahlkreisprognose.de. Letztlich landete Christian Lindner im Rheinisch-Bergischen Kreis mit 16,8 Prozent abgeschlagen auf Platz 4 – wobei er sich gewiss über ein solches Ergebnis am Sonntag sehr freuen würde.
Der große Haken aller Erststimmenprognosen: Sie beruhen nicht auf speziellen repräsentativen Umfragen in dem jeweiligen Wahlkreis. Denn das wäre sehr teuer und aufwendig. Schließlich gibt es 299 Wahlkreise. Um realitätstaugliche Angaben zu machen, müssten regelmäßig über einen längeren Zeitraum mehrere hundert Menschen pro Wahlkreis befragt werden, zusammengezählt müssten deutlich mehr als 100.000 Menschen befragt werden.
Stattdessen werden bundesweite repräsentative Umfragen benutzt, die dann runtergerechnet werden. Wobei zweitstimme.org noch nicht einmal eigene Erhebungen macht, sondern sich via Wahlrecht.de bei den Umfrageinstituten bedient. Bei YouGov basiert die Schätzung der Ergebnisse auf Wahlkreisebene auf einem Modell mit Befragungsdaten von 9.322 Wahlberechtigten aus Deutschland. Das sind statistisch 31 Menschen pro Wahlkreis.
Der Malus, dass die Stichprobe für den einzelnen Wahlkreis viel zu gering ist, kann leider nicht dadurch ausgeglichen werden, dass alle möglichen Variablen miteingerechnet werden – von den Ergebnissen früherer Bundestags,- Landtags- und Europawahlen bis zur strukturellen Zusammensetzung eines Wahlkreises unter anderem nach Alter, Geschlecht und Beschäftigungsstatus. Das ist zwar grundsätzlich richtig, reicht aber nicht für valide Angaben aus. Die Behauptung, dass dabei eine „wissenschaftliche Vorhersage zur Bundestagswahl“ herauskommt, wie die Politikwissenschaftler:innen von zweitstimme.org schreiben, ist jedenfalls eher Unfug.
Jenseits der ohnehin eindeutigen Wahlkreise könnten die Prognosen der verschiedenen Anbieter denn auch einfach gewürfelt sein. Ein Beispiel dafür ist Berlin-Neukölln, das die letzten drei Male von einem SPD-Kandidaten gewonnen wurde. YouGov geht davon aus, dass das knapp auch so bleibt und Hakan Demir seinen Bundestagswahlkreis verteidigen kann, zweitstimme.org sieht diesmal die CDU-Kandidatin Ottilie Klein in Front, während die Linke freudestrahlend verkündet: „Laut Wahlkreisprognose.de liegen wir vorne“, womit sie ihren Kandidaten Ferat Koçak meint. Jetzt müsste nur noch der Grüne Andreas Audretsch gewinnen – und alle würden danebenliegen. Aber hier gibt die taz lieber keine Prognose ab.
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