: Einwanderer in der Grundgesetzfalle
In Leer führt das Chancenaufenthaltsrecht oft in eine Sackgasse. Vielen Migranten droht die Abschiebung, weil sie die Freiheitlich demokratische Grundordnung nicht gut genug erklären können. Ist das ein Vorwand?
Von Nadine Conti
Sie dachten, sie hätten alles richtig gemacht. Sie haben sich Job, Wohnung und neuen Pass besorgt, Sprachtest und den Test „Leben in Deutschland“ bestanden. Alles so, wie es im Chancenaufenthaltsrecht vorgesehen ist. Doch dann macht ein einziges Gespräch mit dem Sachbearbeiter in der Ausländerbehörde des Landkreises Leer alles zunichte. Statt des erhofften dauerhaften Aufenthaltsrechtes droht nun sogar die Abschiebung.
Elf solcher Fälle sind mittlerweile bei Ali Kone vom Verein Afrikanische Diaspora Ostfriesland gelandet – zehn von ihnen stammen aus westafrikanischen Ländern. „Diese Menschen sind verzweifelt, in Panik“, sagt Kone, der sich Hilfe beim Flüchtlingsrat gesucht. Und der äußert einen bösen Verdacht: Versucht der Landkreis hier mit einem Trick seine Abschiebequote in die Höhe zu treiben? Spielt Rassismus eine Rolle?
In den Augen des Flüchtlingsrates verkehrt der Landkreis die Absicht des Chancenaufenthaltsgesetzes ins Gegenteil. Das zum 31. Dezember 2022 in Kraft getretene Gesetz sollte dafür sorgen, dass Menschen aus der belastenden Situation der Kettenduldungen herauskommen. Es gilt nur für Menschen, die zum Stichtag 1. Oktober 2022 schon länger als fünf Jahre in Deutschland lebten und in dieser Zeit nicht straffällig geworden sind. Es verschafft ihnen 18 Monate Zeit, die Voraussetzungen für ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht zu erfüllen. Dazu gehören Sprachkenntnisse auf A2-Niveau, ein bestandener Einbürgerungstest, ein Job, der ausreicht, den überwiegenden Teil der Lebenshaltungskosten zu finanzieren. Für viele Geduldete, die zuvor oft zur Untätigkeit verdammt waren, ist das ziemlich anspruchsvoll.
Im Landkreis Leer ist den Betroffenen allerdings etwas anderes zum Verhängnis geworden: Das geforderte Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Das muss gleich zweimal abgegeben werden: Zum ersten Mal, wenn man das Chancenaufenthaltsrecht beantragt und dann noch einmal, wenn man ein dauerhaftes Bleiberecht beantragt. Meistens sieht das so aus, dass die Antragssteller eine Erklärung unterschreiben, in der sie versichern, auf dem Boden der Freiheitlich demokratischen Grundordnung (FDGO) zu stehen. Damit hat sich der Landkreis Leer auch in der ersten Runde noch zufriedengegeben. Erst am Ende, wenn die Betroffenen alle anderen Integrationsleistungen erbracht hatten und sich kurz vor dem Ziel wähnten, wurden sie noch einmal in die Ausländerbehörde gebeten und befragt.
Nach der Darstellung von Ali Kone und den anderen Unterstützern vom Flüchtlingsrat kam diese Befragung überraschend und überforderte die meisten schon vom Sprachniveau her. Anders als bei der Einbürgerung muss man hier ja das Niveau A2 nachweisen: Das reicht für die routinemäßige Verständigung in Alltagssituationen – aber nicht für die Erörterung von Gesetzestexten und Grundrechten.
Der Landkreis erklärt auf Nachfrage, dass auf das Sprachniveau der Antragssteller Rücksicht genommen werde. Wie solche Fragen aussehen, vermag er nicht mitzuteilen. „Es handelt sich hier weder um eine formale Prüfung noch um einen standardisierten Test, sondern um eine Belehrung, ein mündliches, situationsbezogenes Gespräch“, schreibt der Sprecher. Auch könnten anerkannte Dolmetscher hinzugezogen werden.
In den Fällen, die dem Flüchtlingsrat vorliegen, ist das nicht geschehen. Damit, sagen Caroline Mohrs und Muzaffer Öztürkyilmaz, die sich mit dem Vorgehen des Kreises beschäftigen, sei der Willkür Tür und Tor geöffnet. Der Sachbearbeiter bestimmt allein, auf welchem Niveau er fragt und ob er die Antworten befriedigend findet. Dieser Befund ist von außen schwer nachzuvollziehen und zu überprüfen. Weder zur Vorbereitung noch zum Nachbessern hat man den Betroffenen Gelegenheit gegeben.
Das sei auch im Vergleich zu anderen Ausländerbehörden ungewöhnlich, sagt Mohrs. Da gehe man eher davon aus, dass das schriftliche Bekenntnis und der bestandene Test „Leben in Deutschland“ (der dem Einbürgerungstest entspricht) ausreicht. Eine weitergehende Überprüfung gebe es nur, wenn man irgendwelche Hinweise darauf habe, dass der Antragssteller es mit dem Bekenntnis nicht ernst meint – zum Beispiel, weil er durch extremistische Äußerungen aufgefallen ist oder sich in problematischen Kreisen bewegt. Das soll im Landkreis Leer aber nicht der Fall gewesen sein.
Für die Betroffenen in Leer ist das auch deshalb so dramatisch, weil sie danach nicht einfach in den Status der Duldung zurückfallen, den sie vorher gehabt haben – obwohl das vom Gesetzgeber ursprünglich eigentlich so vorgesehen war. Statt eine Verbesserung zu erreichen, droht ihnen nun die Abschiebung.
Der Landkreis nutzt den Umstand, dass für viele der Betroffenen jetzt zum ersten Mal Pässe vorliegen. Auch das gehörte zu den Aufgaben, die das Chancenaufenthaltsgesetz definiert. Eine, die allerdings von Anfang umstritten war. Bei vielen Geduldeten ist der Vollzug der Abschiebung ausgesetzt, weil keine gültigen Papiere vorliegen. Die werden häufig von Schleppern kassiert oder es wird dazu geraten, sie wegzuwerfen.
Eine Neubeschaffung ist oft nicht einfach – dazu benötigt man meist jemanden, der in der Heimat eine Geburtsurkunde besorgt, man braucht einen Termin bei der Botschaft, die für manche afrikanischen Länder in Belgien oder Frankreich ist, was wiederum mit den Reisebeschränkungen, denen man als Geduldeter unterliegt, nicht leicht zu vereinbaren ist. Das alles ist kompliziert, kostet Zeit und Geld, das im Asylbewerberleistungssatz nicht vorgesehen ist. Das Chancenaufenthaltsgesetz sollte Anreize setzen, sich um Papiere zu bemühen – wobei Menschen, die ihre Identität aktiv verschleiert oder falsch angegeben haben, von vorneherein ausgeschlossen sind.
Der Landkreis Leer verkehrt auch diesen Ansatz in sein Gegenteil. Und argumentiert in mindestens einem Fall auch mit einem Zirkelschluss: Einem Ivorer, der versucht, gerichtlich gegen seine drohende Abschiebung vorzugehen, bescheinigte man, er dürfe ja jetzt gar nicht mehr arbeiten – aber weil er damit nun seinen Vollzeitjob als Lagerarbeiter verloren hat, erfülle er auch die Voraussetzungen für ein Bleiberecht nicht mehr.
Ali Kone, Verein Afrikanische Diaspora Ostfriesland
Das gehörte allerdings zu den Punkten, bei denen das Verwaltungsgericht Oldenburg hellhörig wurde. Weil ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestünden, setzte das Gericht mit einem Beschluss im Eilverfahren die Abschiebung einmal aus – bis sich die Sache in einem Hauptverfahren klären ließe.
Der Landkreis zeigt sich davon nicht besonders beeindruckt: Eine Pressemitteilung des Flüchtlingsrates, in der von Willkür und Rassismus die Rede war, wies der Landrat scharf zurück. Vorher hatte er schon zahlreiche Bemühungen um ein direktes Gespräch mit den Betroffenen und ihren Unterstützern abgeblockt. Einen vereinbarten Termin sagte er so kurzfristig ab, dass die Flüchtlingsratsmitarbeiter schon aus Hannover angereist waren.
Auch eine taz-Anfrage nach statistischen Daten vermochte der Landkreis nicht zu beantworten. Ablehnungsquoten, die einen Vergleich mit anderen Landkreisen ermöglicht hätten, könne man nicht mitteilen, weil eine solche Statistik nicht geführt werde. Aber rassistisch sei man in keinem Fall, betonte der Landkreis gegenüber der dpa: Erst letzten Donnerstag habe ein Mann von der Elfenbeinküste problemlos sein aktives Bekenntnis zur FDGO ablegen können.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen