Denis Côté über „Paul“: „Er hat mir nie in die Augen geschaut“
Denis Côté folgt in seinem Dokumentarfilm „Paul“ (Panorama) einem schwergewichtigen Mann. Seine Ängste überwindet der, indem er für Dominas putzt.
taz: Ein Held, der 136 Kilo wiegt und Sozialphobien und Angststörungen hat, ist kein offensichtlicher Held für einen Film, oder?
Denis Côté: Nein. Ich will nicht böse sein, aber er ist nicht sehr cineastisch, nicht besonders charmant oder gutaussehend. Er hat keine besonders starke Präsenz. Da hatte ich beim Dreh plötzlich Zweifel und fragte meinen Cutter: Magst du das Material mit Paul? Und er sagte mir: „Ja, er hat was, dieser Typ, mach weiter.“ Da habe ich Vertrauen gefasst. Irgendwann findet man ihn liebenswert.
taz: Und anrührend …
Der franko-kanadische Filmemacher Denis Côté wurde 1973 in New Brunswick, Kanada, geboren. Seine Filme wurden auf verschiedenen internationalen Filmfestivals gezeigt und brachten ihm unter anderem beim Internationalen Filmfestival von Locarno sowie bei der Berlinale Preise ein. „Paul“ ist sein vierter Film, der bei den Internationalen Filmfestspielen von Berlin gezeigt wird.
Côté: Das auch. Unser Problem war, dass er nicht mit Männern spricht, wahrscheinlich wegen der schwierigen Beziehung zu seinem Vater. Er hat mir nie in die Augen geschaut. Also habe ich die Produktionsleiterin als Vermittlerin benutzt, damit sie ihn abends anruft und versucht, etwas über seinen Gemütszustand und seine Gefühle zu erfahren. Deswegen war der Film schwer zu drehen. Denn es ist das erste Mal, dass ich einen Film gemacht habe, bei dem ich mich nicht zu 100 Prozent mit dem Protagonisten verbunden fühle, den ich filme. Er selbst ist aber sehr zufrieden mit dem Film.
taz: Wie haben Sie die Schwierigkeiten überwunden?
Côté: Irgendwann hat eine seiner Dominas ihn gefragt: „Bist du nett zu Denis?“ Dann sagte Paul: „Nein, ich schreibe ihm nur kurze E-Mails.“ Dann fragte sie: „Warum? Er macht einen Film über dich. Aber er ist sehr groß. Er hat viele Tätowierungen. Schüchtert dich das ein?“ Und dann sagte er: „Ein bisschen.“ Er hatte also kein großes Interesse daran, den Film zu drehen, weil er nicht wusste, worauf er sich einlässt. Aber er hoffte, dass er ihm zu Bekanntheit verhelfen würde. Und er will Follower auf Instagram. Und ich wollte einen Film. Es war also eine Art Tauschhandel.
17. 2., 13 Uhr, Cubix 5
18. 2., 19.15 Uhr, Filmtheater am Friedrichshain
22. 2., 12.30 Uhr, Stage Bluemax Theater
taz: Wie würden Sie ihn beschreiben?
Côté: Er ist sehr intelligent. Er hat soziale Ängste, ist aber nicht dysfunktional. Er hat zwei Safe Spaces. Sein Telefon, weil er dort sein Image kontrollieren kann. Sein Handy ist wie sein verlängerter Arm. Und er will immer von Frauen umgeben sein. Er hat sich eine Gemeinschaft von Dominas aufgebaut, Frauen, die „kinky“ sind, ihre Sexualität zur Schau stellen und sich in sexy Outfits präsentieren. Er hat sie durch seine Präsentation auf Tinder gefunden: „Ich möchte für dich putzen, kostenlos.“ Dabei war er damals nicht mal ein guter cleaner. Er möchte Geschenke, Bestrafungen oder Demütigungen. Und es gibt viele Frauen, die das für ihren Content auf ihren Websites nutzen. Etwa die Domina, die ihm eine Einhornmaske aufsetzt. Sie verlangt bei anderen für so etwas 400 Dollar pro Stunde.
taz: Wie lernten Sie ihn kennen?
Côté: Über eine Bekannte. Die sagte eines Nachts plötzlich: „Ich werde Paul anrufen.“ Und Paul kam mit dem Auto und fuhr sie nach Hause. Kostenlos, mit Geschenken. Also habe ich mich erkundigt: „Wer ist dieser Herr?“ Dann hat sie mir erzählt, dass sie ihn über eine Domina kennengelernt hatte, für die sie gearbeitet hatte. Nach dem Job wollte Paul mit ihr in Kontakt bleiben und sagte: „Madame, ich werde Sie fahren, wohin Sie wollen.“ Und da erinnerte ich mich an meinen Film „Ta peau si lisse“ (A Skin So Soft), bei dem ich sechs Monate lang Bodybuilder begleitet hatte. Das wollte ich auch mit ihm machen, einen Film, der sich auf der Schwelle zu Voyeurismus und Ausbeutung bewegt, aber nicht voyeuristisch, obszön oder exploitative ist. Der Film hat einen sehr beschützenden Blick auf Paul.
taz: Welche Rolle spielen soziale Medien?
Côté: Es geht um die Beziehung zu unserem Bild durch das Handy. Paul versteckt sich hinter seinem Handy, um sein Image zu gestalten. Im normalen Leben scheint er sich zu langweilen. Wenn er also mit seinem Telefon herumspielt, Montagen macht und Dominas trifft, muss es auf sozialen Netzwerken zu sehen sein. Man muss ein gutes Image haben. Und wenn es nicht funktioniert, schneidet man es eben neu. Unser Film handelt von sehr aktuellen Themen.
taz: Trennt Paul zwischen seinem Privatleben und seinem Leben auf Instagram?
Côté: Manchmal saß ich mit meinem Kameramann im Auto und fragte: „Vincent, spielt Paul eine Figur?“ Vincent wusste es nicht. Nach den Drehtagen fragte ich mich immer wieder: „Hat Paul heute die Figur Paul gespielt?“ Der Film ist fertig und ich muss zugeben, dass Paul für mich immer noch ein Rätsel ist.
taz: Wie haben Sie die Sado-Maso-Szenen gedreht und die gefilmten Personen einbezogen?
Côté: Ich habe Paul gesagt, dass wir das Projekt erst beginnen können, wenn er mir sieben der Dominas vorgestellt hat. Ich habe sie in ihren Wohnungen aufgesucht, um das Licht und die Dimensionen zu prüfen, und ihnen Fragen gestellt: „Was willst du von Paul? Und wenn ich zum Filmen hierherkomme, kannst du die Kamera vergessen und genau das tun, was ihr sonst auch tut?“ Zwei der Frauen wollten nicht, dass man ihr Gesicht sieht. Eine wollte, dass wir ihre Stimme ändern. Meist ist das Gefilmte zu 100 Prozent echt. Ein oder zweimal haben wir ein bisschen geschummelt. Aber wir respektieren die Wahrheit von Pauls Alltag.
taz: Ist das ein Prinzip Ihrer Regie, dass Sie nicht werten?
Côté: Ja, und es hilft mir, dass ich mich in diesen Szenen, sei es BDSM oder alternative Sexualität, ein bisschen auskenne. Das sind keine Dinge, bei denen ich mit „Oh, my God!“ reagieren würde. Wenn Paul also sagt: „Ich werde beim Putzen geschlagen“, hören mein Kameramann und ich ihm zu und versuchen nicht, mit unserer Kamera ein bürgerliches Publikum zu verschrecken. Dennoch ist es sehr marginal, was wir auf der Leinwand zeigen: BDSM und Sexualität. Die Aufgabe bestand also darin, es fast banal erscheinen zu lassen.
taz: Künstler sollten auch nicht engstirnig sein, oder?
Côté: Das darf man nicht, sonst wird man schnell reaktionär. Wenn ich heute an Projekten arbeite, sind meine Mitarbeiter oft jünger. Insofern haben mir Paul und meine jungen Mitarbeiter geholfen. Ich bin immer der Älteste, aber ich habe nicht das Recht, dabei mit überholten Ideen anzukommen.
taz: Wie entscheiden Sie, ob Sie Spiel- oder Dokumentarfilme drehen? Oder passiert das zufällig?
Côté: Dieses Projekt kam auf jeden Fall zufällig, weil ich plötzlich auf eine Perle gestoßen bin. Wenn ich einen Dokumentarfilm mache, möchte ich, dass er fiktional ist. Wenn man sich „Paul“ ansieht, würde ich mir wünschen, dass man sagt: „Ah, da erkenne ich Denis Côté wieder“, weil ich eine Persönlichkeit und einen eigenen Blick habe und weil mir diese Dinge sehr wichtig sind. Bei „A Skin So Soft“ etwa hatte ich das Gefühl, dass ich der einzige Mensch bin, der diesen Film so gedreht hätte. Das bedeutet, dass ich eine Handschrift habe, ein spezieller Auteur bin.
taz: Arbeiten Sie auch spontan?
Côté: Ja, wenn ich das Gefühl habe, dass ein Thema mit drei Freunden und einer Kamera gemacht werden kann, dann werde ich das mit vollem Engagement angehen. Bei „Paul“ habe ich immer noch das Gefühl, dass ich damit ein Statement abgegeben habe. Wir haben diesen Film hier mit zweitausend Dollar angefangen und erst später Förderung vom Kulturministerium von Québec bekommen, um ihn fertigzustellen. Ich habe ein gewisses Standing, ich kann mir das leisten. Ich bin 51 Jahre alt. (selbstironisch:) Ich bin kein Bourgeois geworden. Ich bin in der Lage, DIY zu machen. Damit will ich auch jungen Filmemachern in Québec zeigen, dass es möglich ist, Filme zu machen, ohne ewig auf Förderung warten zu müssen.
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