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Eine Person geteilt in zwei

Tom Shovals beeindruckender Dokumentarfilm „A Letter to David“ verwebt Leben und Kino. Die zentrale Figur David Cunio ist Geisel der Hamas und war Hauptdarsteller in einem früheren Spielfilm des Regisseurs (Berlinale Special)

Bild aus einer anderen Zeit: Die Zwillingsbrüder David und Eitan Cunio beim Casting für einen früheren Film des Regisseurs Foto: © Orit Azoulay

Von Andreas Fanizadeh

Wenn sie sich leicht schälen lassen, sind sie am besten“, sagt der Mann und reicht einem Begleiter die frisch vom Baum gepflückte Orange. Wir streifen mit Familie und Freunden von David und Eitan Cunio durch den Kibbuz Nir Oz sowie das umliegende Farmland in der Negev-Wüste. Es sind Videoaufnahmen, die privat erscheinen, wie sie sich im Laufe eines Lebens ansammeln können. Die Zwillingsbrüder David und Eitan Cunio sind in den Videoclips zu sehen, wie sie als junge Erwachsene zu Popmusik tanzen, in einem kleinem Zimmer miteinander ringend. Wie sie durch die Behausungen und Pflanzungen des Kibbuz streifen, herumblödeln und Schabernack treiben. „Shabbat Schalom“, Alltag in einem 1955 gegründeten Kibbuz, zwischen seinen im modernistischen Stil errichteten funktionalen Bungalows, eingebettet in einer dem dörflichen Leben gegenüber offenen Landschaft – Botanik, der Negev-Wüste abgetrotzt.

Die älteren in den Dokumentarfilm „A Letter to David“ eingearbeiteten Aufnahmen sind rund um den früheren Spielfilm „Youth“ entstanden. In diesem spielten David und Eitan Cunio 2013 die Hauptrollen. In den Rückblenden erscheint der Kibbuz Nir Oz als friedvoll blühende Oase.

In einer der Videosequenzen deutet einer der Cunio-Brüder mit ausgestrecktem Arm über die bewässerten Felder hinweg zu den zwei Kilometer entfernt liegenden Grenzanlagen, die Israel hier vom palästinensischen Gazastreifen trennen. In der flirrenden Luft zeichnen sich am Horizont die Umrisse höherer Gebäude ab. „Schau mal, wie nahe das liegt“, sagt er. Das Wort „Utopie“ fällt. Ein Begriff, den man nach dem 7. Oktober 2023 hier nicht mehr positiv zu füllen vermag.

„Du läufst durch den Kibbuz, aber es gibt ihn nicht mehr“, sagt Eitan Cunio in den aktuellen Aufnahmen für „A Letter to David“. Sie sind 2024 entstanden. Er führt durch ein verwüstetes Terrain. Angeführt von den Terroristen der Hamas überfielen die Banden aus Gaza am 7. Oktober 2023 auch den Kibbuz Nir Oz. Sie zerstörten, was sie zum Zerstören fanden. Eitan zeigt auf zerbombte und ausgebrannte Häuserruinen, spricht von Freunden, die Eingeschlossenen wie ihnen in den Schutzräumen helfen wollten und dabei getötet wurden.

Von den knapp 400 Bewohnern des Kibbuz Nir Oz wurden am 7. Oktober mehr als ein Viertel ermordet oder nach Gaza verschleppt. Darunter auch Eitans Bruder David, dessen Frau Sharon mit ihren Kleinkindern Yuli und Emma. Ebenso der jüngere Bruder der Cunios, Ariel.

Die palästinensischen Extremisten ermordeten an einem einzigen Tag in Israel 1139 Menschen, verletzten weitere 4.600 zum Teil schwer und verschleppten 250 Menschen in den Gazastreifen. Während andere Mitglieder der Familie Cunio nach wochenlanger Geiselhaft freikamen, bleibt Eitans Zwillingsbruder David bis heute verschleppt.

Der israelische Filmemacher Tom Shoval kannte den Kibbuz Nir Oz bereits vor dem 7. Oktober sehr gut. Für seinen 2013 entstandenen Spielfilm „Youth“ hatte er hier schließlich die 1990 geborenen Zwillingsbrüder David und Eitan Cunio gecastet, sie zu seinen Hauptdarstellern in „Youth“ gemacht. Shovals preisgekröntes Filmdebüt feierte 2013 auf der Berlinale die Weltpremiere.

Die neue Berlinale-Chefin Tricia Tuttle kritisiert das letztjährige Unvermögen, Solidarität mit David Cunio auf der Abschlussgala zu zeigen. „Wenn man bei der Gala eine Person nach der anderen über Mitgefühl für die Menschen in Gaza reden hört“, sagte Tuttle der Jüdischen Allgemeinen, „aber niemand erwähnt den Schmerz auf der anderen Seite, niemand erwähnt den Schauspieler David Cunio, der vor zwölf Jahren auf der Berlinale war, dann denke ich, dass das Festival versäumt hat, dem Raum zu geben.“ Sie beabsichtige deswegen dieses Jahr auch „eine persönliche Entschuldigung bei David Cunio und seiner Familie“. Tom Shoval hatte das Verhalten der Festivalleitung 2024 scharf kritisiert. „Wenn Filmemacher oder Schauspieler in Gefahr sind“, so der Filmemacher, „stand die Berlinale in der Vergangenheit hinter diesen Menschen.“ Im Falle David Cunios tat sie das nicht.

Shoval hatte Eitan und David 2013 „in einem strengen und langwierigen Casting-Prozess“ für „Youth“ ausgewählt. Er suchte damals wie er sagt, zwei Brüder, „die eine starke körperliche und emotionale Verbindung verkörpern“. David und Eitan schienen ihm dafür perfekt: „Sie waren wie zwei Hälften eines Ganzen, sowohl geistig als auch körperlich – eine Person geteilt in zwei.“

Nach dem Überfall auf Israel und der Verschleppung der Geiseln in den Gazastreifen begann Shoval sein archiviertes Filmmaterial von „Youth“ zu sichten, die vielen hinter den Kulissen gewonnenen und für „Youth“ nicht verwendeten Auf­nahmen aus Casting- und Dreh­prozess mit den Cunios und für „A Letter to David“ auszuwerten. Bittere Ironie am Rande: „Youth“ ist nicht nur eine klassische Coming-of-Age-Geschichte, der Film handelt auch von einer Entführung. Wenn auch unter gänzlich anderen Vorzeichen.

Shoval nahm nach dem 7. Oktober Kontakt mit Eitan Cunio auf und ließ sich von ihm durch den zerstörten Kibbuz führen. In dem so zusammen mit dem älteren Material entstandenen Dokumentarfilm „Michtav Le’David“ (A letter to David) ist Eitan nun der von seinem Bruder schmerzlich getrennte Hauptdarsteller.

Im ausgebrannten Bungalow in Nir Oz schildert Eitan, wie er sich mit seiner Familie im Schutzraum verbarrikadierte, sie fast erstickt oder verbrannt wären. Wie die Terroristen immer wieder versuchten, in den Raum einzudringen. Und wie es seinem Bruder David und dessen Familie zur gleichen Zeit erging. Aus Furcht, zu verbrennen oder zu ersticken, verließen diese schließlich den Schutzraum. Sie wurden nicht an Ort und Stelle ermordet, jedoch zu Geiseln. Die Schutzräume der Bungalows in Nir Oz waren gegen den regelmäßigen Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen konzipiert, weniger gegen das unmittelbare Eindringen von Terroristen in die Anlage.

In einer Szene mit Eitan in den Ruinen des Kibbuz weht Gefechtslärm aus dem Gazastreifen herüber. Es wird nicht weiter kommentiert

Für „A Letter to David“ verzichtet Shoval auf die schockierenden Bilddokumente, die vom 7.Oktober selbst existieren. Die Gewalt ist ohne Voyeurismus anwesend. Statt sie zu reproduzieren, lässt der Regisseur Eitan, Sharon und andere Mitglieder der Familie sprechen. In einer Szene mit Eitan in den Ruinen des Kibbuz weht Gefechtslärm aus dem Gaza­streifen herüber. Es wird nicht weiter kommentiert.

Das Irrationale des Massenmordes vom 7. Oktober wird im Kontrast zu der unideologischen Bildsprache von „A Letter to David“ sehr deutlich. Die historischen Aufnahmen verknüpfen Davids und Eitans individuelle Biografien mit der brutalen Gegenwart. Sie erzählen von den „unschuldigen“ Hoffnungen und Sehnsüchten zweier jugendlicher Männer, wie sie sich rund um die ­damaligen Filmarbeiten für „Youth“ artikulierten. Zusammen mit den aktuellen Aufnahmen gehören sie zum Mix der illusorischen Vorstellung einer in Wirklichkeit niemals existiert habenden heilen Welt. Zu einer Gesamtheit, die am 7. Oktober 2023 symbolisch und physisch an­gegriffen und vernichtet werden sollte.

Shoval inszenierte „Youth“ 2013 als Gesellschaftskritik an der Verfasstheit Israels. „Die Wut über die soziale Realität, die einst die Geschichte antrieb“, sagt der Filmemacher heute, „ist verblasst und durch den unheimlichen Nachhall auf die heutige Tragödie ersetzt worden. In ‚Youth‘ spielte David Cunio einen Entführer, heute ist er die Geisel.“

15. 2., 16 Uhr, Akademie der Künste16. 2., 15.30 Uhr, Colosseum 1

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