Blinde Flecken: Die überhitzte Welt
Mit jedem zehntel Grad Erderwärmung gibt es mehr Menschen, die in unbewohnbaren Regionen leben. Doch im Migrationswahlkampf ist Klima kein Thema.
![Menschen und Ziegen in einer dürren Umgebung Menschen und Ziegen in einer dürren Umgebung](https://taz.de/picture/7519512/14/37637077-1.jpeg)
D ie Nachricht hatte fast amtlichen Charakter. Der EU-Klimadienst Copernicus meldete zum Jahresbeginn, dass die Erderwärmung im Jahr 2024 die Messlatte von 1,5 Grad erstmals gerissen hat. Wir sind bei 1,6 Grad gelandet, viel schneller als vorhergesagt. Wer jetzt größere Stichflammen der Erregung erwartete, ist enttäuscht worden. Die Nachricht wurde entgegengenommen wie eine Mitteilung des Bundes der Steuerzahler. Achselzuckend. Dabei waren die 1,5 Grad das heilige Eichmaß der Klimapolitik, auf das sich seit der Konferenz von Paris 2015 alle Akteure stets bezogen haben. Mit ihrer regelmäßigen Ausrufung ließ sich entschlossener Klimaschutz insinuieren, ohne ihn jemals mit konkreten Maßnahmen zu unterfüttern.
Was bedeutet die Erderwärmung von 1,6 Grad, außer dass eine Grenzlinie überschritten wurde? Die reichen Länder, die zu großen Teilen für die Klimakrise verantwortlich sind, müssen verschärft mit Hitzewellen, Hochwasser und anderen Wetterextremen rechnen. Für die ärmeren Länder, deren Pro-Kopf-Ausstoß von Treibhausgasen oft nur halb so groß ist wie der globale Durchschnitt oder noch niedriger, ist die Lage weit bedrohlicher.
1,6 Grad mehr auf dem Thermometer verschärfen vor allem die Lebensbedingungen in den heißen Ländern. Einige Regionen des Hitzegürtels der Erde werden ganz einfach unbewohnbar, sofern sie es nicht schon sind, und Landwirtschaft ist dort nicht mehr möglich. Damit hat die Klimakrise direkte Folgen für die Massenflucht von Millionen.
Vor zwei Jahren haben Klimaforschende Berechnungen vorgelegt, wonach 600 Millionen Menschen zu diesem Zeitpunkt unter klimatischen Bedingungen leben, die ihre Heimat eigentlich unbewohnbar machen. Jedes zehntel Grad weiterer Erwärmung vergrößert die Flächen mit planetarem Fieber. Aber wie ist „Unbewohnbarkeit“ überhaupt definiert? Als ein gerade noch behagliches Temperaturfenster werden in südlichen Regionen Durchschnittswerte von 22 bis 26 Grad im Jahreslauf angesehen. Bei einer Temperatur von 28 Grad wird es kritisch. Regionen mit einer Jahresdurchschnittstemperatur von über 29 Grad (Tag- und Nachtwerte) gelten als unbewohnbar. Im Jahr 1980 lebten 0,3 Prozent der Weltbevölkerung in solchen nicht mehr tolerierbaren Hitzezonen. Inzwischen sind es 9 Prozent.
Das ist nicht Worst Case, sondern realistisch
Die gegenwärtige Klimapolitik führt nach Aussagen des Weltklimarats IPCC zu einer Erderwärmung von 2,7 bis 3,1 Grad bis zum Ende des Jahrhunderts (2080 bis 2100). Dies ist kein Worst Case, sondern ein seriös-realistisches Szenario, das die Maßnahmen der aktuellen Klimapolitik in entsprechende Emissionstabellen und Gradzahlen fließen lässt.
2,7 Grad würden bedeuten, dass dann rund zwei Milliarden Menschen in überhitzten, nicht mehr bewohnbaren Regionen leben, so die Abschätzung der Klimafolgenforschung. Sollte die Menschheit ihre Anstrengungen doch noch verschärfen und bei 2,4 Grad niederkommen, wäre die Heimat von 1,3 Milliarden Menschen unbewohnbar. Schaffen wir – was derzeit einem Wunder gleichkäme – die 2-Grad-Grenze, würde die Zahl der außerhalb der Zumutbarkeit lebenden Menschen „nur“ auf 823 Millionen steigen. In jedem Fall wird die Zahl der Klimaflüchtlinge dramatisch zunehmen, der Migrationsstrom weiter und weiter anwachsen.
Man kann sich die betroffenen Regionen auf der Weltkarte ansehen. Nordamerika und Europa gehören nicht dazu. Dafür der nördliche und zentrale Teil Südamerikas (Brasilien, Ecuador, Venezuela und so weiter), weite Gebiete West- und Zentralafrikas sowie Kenia in Ostafrika, dazu die arabische Halbinsel, der indische Subkontinent, das nördliche Australien und einige Inselstaaten.
Natürlich setzen die von Überhitzung betroffenen Menschen alles daran, ihr Lebensumfeld abzukühlen. Aber Klimaanlagen und ihr Betrieb kosten Geld. Die Internationale Energieagentur hat die rasante Zunahme der global installierten Klimaanlagen dokumentiert. Ihre Zahl hat sich seit 1990 von rund 600 Millionen vervierfacht auf aktuell 2,4 Milliarden; sie wird Mitte des Jahrhunderts bei 5,5 Milliarden liegen. Große Energieverbräuche mit hohen Treibhausemissionen sind die Begleiter dieser Entwicklung.
Dort, wo keine Abkühlung möglich ist, müssen sich die Menschen auf den Weg machen in bewohnbare, menschenfreundlichere Regionen. Eine Bereitstellung von alternativem Lebensraum ist in keinem Klimamodell vorgesehen. Millionen bleibt nur die Flucht, der nackte Kampf ums Überleben an einem besseren Ort. Doch der Klimawandel wird selten mit dem direkten Verlust von Heimat und Lebensraum von Menschen in Verbindung gebracht. Die Flucht des Kabeljaus aus der zu warmen Nordsee ist uns geläufiger als die der Einwohner in zu heiß gewordenen Landstrichen.
Migration ist in diesem Bundestagswahlkampf zum Topthema avanciert, das täglich die Nachrichten flutet. Das Klimadesaster wird dabei komplett ausgeblendet. Zur Verarbeitung von Klimakatastrophen gehört es eher, sie in Geldbeträge zu übersetzen.
Es geht nicht um Geld, sondern um Leben und Tod
Solche Hochrechnungen beziehen sich in aller Regel auf die reichen Länder. Auch bei der jüngsten Feuerkatastrophe in der Millionenmetropole Los Angeles ist die Kostenschätzung – 250 Milliarden Dollar – ein unverzichtbares Attribut, um das verheerende Ausmaß wenigstens monetär einzufangen.
Doch es geht beim Klima nicht vorrangig um Geld. Es geht „um Leben und Tod“, wie die Londoner Physikerin und Klimawissenschaftlerin Friederike Otto in ihrem viel beachteten Buch „Klimaungerechtigkeit“ schrieb.
Die lebensgefährlichen Fluchtrouten via Mittelmeer und Atlantik nach Europa belegen diese These. Doch in Europa und den USA ziehen diejenigen, die für die Erdüberhitzung die Hauptverantwortung tragen, die Mauern hoch. Und der nicht zu leugnende Zusammenhang zwischen Klimadesaster und Massenflucht verliert sich im politischen Überbietungswettbewerb der Parteien um die härteste Migrationspolitik.
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