: In Freiheit
Israel lässt im Austausch für seine Geiseln Hunderte Palästinenser aus seinen Gefängnissen ohne Anklage frei: Festgenommene ebenso wie verurteilte Terroristen. Ein Besuch bei den Rückkehrern
Aus Nablus Felix Wellisch
Schon auf der Treppe stehen sie Schlange, um die Rückkehr ihres Helden aus israelischer Haft zu feiern. Hunderte sind gekommen, um den Sohn des Balata-Flüchtlingslagers im Westjordanland willkommen zu heißen. Fahed Sawalhi sitzt am 26. Januar, einen Tag nach seiner Entlassung aus einem israelischen Gefängnis, am Eingang des maroden Festsaals, küsst bärtige Wangen und empfängt Glückwünsche. Über dem Eingang hängt ein Plakat mit seinem Porträt als 20-Jähriger. Der abgemagerte und kahlrasierte 44-Jährige trägt eine schwarze Kufiya um die Schultern und hat kaum noch etwas mit dem Mann auf dem Plakat gemein. Wofür er zu siebenmal lebenslänglich verurteilt wurde, steht nicht auf dem Plakat.
Am 17. Juli 2002, auf dem Höhepunkt der Zweiten Intifada, sprengten sich im Süden Tel Avivs 15 Meter voneinander entfernt zwei Selbstmordattentäter zwischen Bars und Essensständen in die Luft. Sechs Menschen sowie die zwei Täter starben. Hinter dem Anschlag steht der Palästinensische Islamische Dschihad (PIJ). „Ich war dafür verantwortlich“, sagt Sawalhi an diesem letzten Sonntag im Januar der taz. Insgesamt mehr als 1.000 Israelis und 3.500 Palästinenser starben während des gewaltsamen Aufstands der Palästinenser gegen die israelische Besatzung binnen fünf Jahren.
Er habe die beiden Jugendlichen im Camp ausgewählt. „Ich habe ihnen vom Paradies erzählt und von der Bedeutung der palästinensischen Sache“, sagt er. Er habe ihre Videobotschaften zur Veröffentlichung nach dem Anschlag aufgenommen, ihnen Sprengsätze organisiert und sie selbst im Auto nach Dschenin nahe der Grenze zu Israel gefahren. „Von dort hat sie jemand anders nach Tel Aviv gebracht.“
Am Samstag vor einer Woche kam Sawalhi im Austausch gegen vier israelische Geiseln frei, ebenso wie 199 weitere Palästinenser. Insgesamt sollen in der ersten Phase der seit dem 19. Januar geltenden Waffenruhe in Gaza 33 Geiseln und rund 1.900 palästinensische Gefangene freigelassen werden. Unter ihnen sind sowohl Dutzende für Morde an Israelis verurteilte Terroristen als auch Hunderte Palästinenser, die wegen Posts auf Onlineplattformen oder ganz ohne Anklage – und damit als sogenannte Administrativhäftlinge – festgehalten wurden. Auch bekannte Palästinenserführer wie Zakaria Zubeidi, ehemals Chef der für Anschläge verantwortlichen Al-Aksa-Brigaden in Dschenin, sind unter den Freigelassenen. Rund 1000 Gaza-Bewohner sollen noch freikommen, die nicht am Hamas-Überfall am 7. Oktober 2023 beteiligt waren.
Unter Israelis unterstützt zwar die Mehrheit das fragile Abkommen und ein Ende des Krieges im Gazastreifen, sieht in Menschen wie Sawalhi aber tickende Zeitbomben. Sie haben ein gutes Argument: Jahia Sinwar, der mittlerweile getötete Kopf hinter dem Hamas-Überfall vom 7. Oktober auf Israel mit rund 1.200 Toten und 250 entführten Israelis, hatte ebenfalls 24 Jahre in israelischen Gefängnissen verbracht, bevor er 2011 freigetauscht wurde. Die Palästinenser hingegen begrüßen die Freilassungen, auch weil unter den Gefangenen viele ohne Verfahren und Anklage im Gefängnis waren. Für viele, darunter die Besucher der Willkommensfeier im Balata-Camp am letzten Sonntag im Januar, sind Sawalhi und die anderen schlicht Widerstandskämpfer. Die Freilassungen sehen sie als Erfolg im Kampf gegen die israelische Besatzung.
Das sehen nicht nur Sawalhis Kampfgefährten vom PIJ so. Mit Distriktgouverneur Ghassan Daklas erweist auch ein Vertreter der palästinensischen Autonomiebehörde (PA) dem Freigelassenen die Ehre, ebenso wie Hunderte junge und alte Männer aus dem Flüchtlingslager. Vergessen ist für diesen Moment der Einheit, dass Sicherheitskräfte der bei vielen Palästinensern ohnehin verhassten PA dieser Tage selbst gegen bewaffnete Gruppen in Dschenin und anderen Orten vorgehen, um sich in den Augen der USA und Israels für die Machtübernahme in Gaza zu qualifizieren.
Im Festsaal im Balata-Camp hängt Zigarettenrauch, Jugendliche verteilen Schokoriegel und Cola. Sawalhis Bruder flüstert dem Freigelassenen, der in seinem Zuhause ein Fremder geworden ist, den Namen jedes neuen Gastes ins Ohr. Etwa die Hälfte der Versammelten war zum Zeitpunkt seiner Verhaftung noch nicht geboren, die andere Hälfte hat er seit 23 Jahren nicht gesehen. „Die meisten erkenne ich nicht wieder“, sagt Sawalhi. „Doch es sind meine Leute, die stolz auf mich sind, weil ich so viel Zeit meines Lebens für unser Heimatland geopfert habe.“
Hinter ihm spielen einige Kinder mit einem Maschinengewehr aus Plastik. Wie sie heute erlebte auch Sawalhi nach dem schrittweisen Zusammenbruch des Oslo-Friedensprozesses in den 1990er Jahren als Teenager eine Welle der Gewalt: Bei Anschlägen militanter Palästinenser und zunehmenden Razzien der Armee starben damals binnen fünf Jahren 405 Palästinenser und mehr als 250 Israelis. Wie andere Jugendliche aus Balata begann er, Steine auf die Soldaten zu schmeißen, wurde erstmals verhaftet. Mit dem Ausbruch der Intifada, die im Gegensatz zum ersten palästinensischen Volksaufstand in den 1980er Jahren von Selbstmordanschlägen gegen israelische Zivilisten geprägt war, ging er in den Untergrund. Im Februar 2003 nahmen ihn israelische Soldaten in den Bergen bei Tulkarem westlich von Nablus fest.
Ein israelisches Gericht verurteilt ihn zu siebenmal lebenslänglich und 50 Jahren Gefängnis. Wer die Opfer waren, weiß er bis heute nicht. Versteckt in den Bergen habe er wenig mitbekommen. Wirklich wissen wollte er es wohl nie. „Jeder, der in Tel Aviv wohnt, ist entweder ein Siedler oder ein Soldat, egal wie alt er ist und welches Geschlecht er hat“, sagt er auch heute noch.
Sawalhi hat mit 23 Jahren seines Lebens für seine Tat bezahlt. Außerdem riss die Armee zur Abschreckung anderer das Haus seiner Eltern ab. Ob er auch heute noch glaubt, damals das Richtige getan zu haben? „Ja, auf jeden Fall“, antwortet er ohne zu zögern auf Nachfrage.
Er bestätigt die Befürchtung vieler Israelis, dass die verurteilten Terroristen bei Freilassung wieder Anschläge begehen könnten. Die meisten der lebenslang Verurteilten wurden daher nach Ägypten und in den Gazastreifen gebracht. Der PIJ hat laut Sawalhi separat ausgehandelt, dass er und weitere Mitglieder zurück ins Westjordanland kamen.
Aus Musikboxen schmettern PIJ-Kampflieder über die Menge. Eines ist Sawalhi gewidmet: „Die Helden von Balata, sie liegen unter der Erde, sie sitzen in Gefängnissen“, heißt es da. „Fahed ist unser Versprechen, Fahed wird frei sein.“ Frei ist Sawalhi jetzt, doch die Haft hat deutliche Spuren hinterlassen. Seine Haut ist dünn und blass, sein Körper unter dem olivgrünen Jogginganzug kaum mehr als ein Gerippe. Nach dem 7. Oktober habe sich die Behandlung der Gefangenen deutlich verschlechtert. „Sie haben uns Radios, Fernseher, Bücher und jeden Kontakt zur Außenwelt abgenommen“, sagt er. In den Zellen seien die Fenster ausgebaut worden, sodass sie im Winter gefroren und im Sommer unter der Hitze gelitten hätten. „Sie haben uns hungern lassen, uns alle Wechselkleidung abgenommen und uns nachts kaum länger als zwei Stunden am Stück schlafen lassen.“ Dazu habe es immer wieder Schläge gegeben, „um uns zu brechen“. Im Fall Sawalhis offensichtlich ohne Erfolg: „Ich habe durch zwei Dinge überlebt: meinen Glauben an Gott und meinen Glauben an unseren Widerstand.“
Seine Berichte decken sich mit zahlreichen Recherchen von Medien und NGOs. Dort ist von Hautkrankheiten, offenen Wunden, Zwangspositionen mit verbundenen Augen und Handschellen sowie sexuellem Missbrauch die Rede. Teils sind Videos solcher Übergriffe sogar online verfügbar, etwa aus dem Gefangenenlager Sde Teiman. Der Bericht einer israelischen Menschenrechtsorganisation spricht von einem „Netzwerk von Folterlagern“. Mindestens 58 Gefangene aus Gaza und dem Westjordanland sind seit dem 7. Oktober in israelischen Gefängnissen gestorben.
Überraschend kommt diese Bilanz nicht, sie war von höchster Stelle angekündigt worden: Der bis zu seinem Rücktritt im Januar für Gefängnisse zuständige rechtsextremistische Polizeiminister Itamar Ben Gvir nannte es bereits im Juli eines seiner „höchsten Ziele, die Bedingungen für die Terroristen in den Gefängnissen zu verschlechtern und ihre Rechte auf das gesetzliche Minimum zu senken“.
Betroffen sind aber nicht nur verurteilte Terroristen wie Sawalhi. Bereits vor dem 7. Oktober saßen laut der israelischen NGO Hamoked rund 5.000 Palästinenser in israelischen Gefängnissen. Nach Kriegsbeginn starteten israelische Sicherheitsbehörden eine Verhaftungswelle, die Zahl stieg bis heute auf mehr als 10.000.
Die palästinensische Journalistin Rula Hassanein aus Bethlehem etwa war im März 2024 in ihrem Haus von Soldaten festgenommen worden, nachdem sie sich auf Onlineplattformen kritisch über den Gazakrieg geäußert hatte. Ein Video ihrer Freilassung ging viral, weil ihre Tochter sie nach fast einem Jahr Trennung nicht wiedererkannte. Das Mädchen war neun Monate alt, als Hassanein verhaftet wurde. Auch Dutzende Minderjährige sind unter den Freigelassenen, etwa der 15-jährige Muhammed Lutfi oder die 17-jährige Rose Khwais aus Ostjerusalem. Khwais wurde im Alter von 16 Jahren zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt, weil sie einen Israeli mit einem Messer bedroht haben soll. Die Familie hat die Vorwürfe stets zurückgewiesen. Die Urteile sind aufgrund der israelischen Besatzung in der Regel von Militärgerichten erlassen, die von der Öffentlichkeit kaum nachgeprüft werden können.
Rund ein Drittel der in israelischen Gefängnissen sitzenden Palästinenser werden ganz ohne Anklage, Verfahren oder Urteil festgehalten – mitunter über Jahre. Betroffen sind oft politisch und zivilgesellschaftlich aktive Menschen. Eine von ihnen war bis vor zwei Wochen Miasr al-Faqih: Die Sozialarbeiterin und Frauenrechtlerin ist seit dem 20. Januar zurück in ihrem Haus auf den Hügeln von Nablus. Sie war zusammen mit 90 Frauen und Minderjährigen im Austausch gegen drei israelische Geiseln freigekommen. Ein weißes Tuch mit palästinensischen Stickereien um die Schultern gelegt, zeigt sie die Tür ihres Hauses, die israelische Soldaten vergangenen September mitten in der Nacht eintraten. An Händen und Füßen gefesselt, nahmen sie die 60-Jährige mit. Im Damon-Frauengefängnis bei Haifa kam sie mit fünf anderen Frauen in eine neun Quadratmeter große Zelle. Zwei seien wie sie in Administrativhaft gewesen, die anderen wegen Einträgen in sozialen Medien verurteilt worden. „Bis zu 18 Monate für Online-Posts“, sagt al-Faqih. Auch sie berichtet von Schlägen, Schlafentzug und Pfeffersprayeinsätzen in den Zellen. Fünf Kilo habe sie in vier Monaten verloren. „Ich habe nicht mehr geredet, nur noch nach unten geschaut und mich unsichtbar gemacht“, sagt die schmale Frau. „So überlebst du.“ Al-Faqih vermutet ihren Aktivismus als Grund für ihre Festnahme: Nachdem Minister Ben Gvir nach dem 7. Oktober Angehörigen den Besuch palästinensischer Gefangener verboten hatte, nahm sie monatelang in Nablus an wöchentlichen Protesten mit deren Familien teil. „Ich habe außerdem die Familien der Verhafteten unterstützt“, sagt sie.
Die 60-Jährige steht der marxistischen Volksfront für die Befreiung Palästinas nahe. Neben ihrer Haustüre hängt anlässlich ihrer Freilassung ein Willkommensplakat der Gruppe. Deren bewaffneter Teil hat sich im Gazastreifen am 7. Oktober dem Überfall der Hamas angeschlossen, im Westjordanland ist die Organisation aber auch zivilgesellschaftlich aktiv. Ob sie selbst zur PFLP gehört, lässt al-Faqhi, über die, wie bei Administrativhäftlingen üblich, spätestens seit ihrer Festnahme eine geheime Akte der israelischen Sicherheitsbehörden existiert, unbeantwortet: Sie sagt: „Ich unterstütze den Widerstand gegen die Besatzung.“ „Die Hamas und der PIJ führten die palästinensische Bewegung mit einer religiösen Ausrichtung“, sagt sie. Gruppen wie die säkulare PFLP oder die Fatah von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas hätten an Bedeutung verloren, nachdem die Oslo-Abkommen in den 90er Jahren gescheitert waren.
Welche Auswirkungen der 7. Oktober für die Palästinenser hatte, will sie nicht beurteilen, „aber die Lage im Westjordanland war schon vorher kaum noch zu ertragen“. Das Jahr vor dem Hamas-Überfall war das tödlichste seit 20 Jahren. Bis Oktober waren rund 200 Palästinenser bei Zusammenstößen mit israelischen Sicherheitskräften getötet worden, darunter zahlreiche Zivilisten. Dutzende Israelis starben bei Anschlägen.
Entlassen wurde al-Faqhi mit einer Warnung des Geheimdienstes: „Sie sagten mir, dass sie mich wieder verhaften würden, wenn ich Aufmerksamkeit erregen oder Flaggen an meinem Haus aufhängen würde.“ Die Aktivistin aber will weitermachen: „Flaggen brauche ich dazu nicht.“
Mitarbeit: Abed Omar Qusini
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