: Neuer Name, neues Leben
In seiner Gedenkstunde für die Opfer des NS fokussiert der Bundestag in diesem Jahr die Ukraine.Die Historikerin Ayelet Eva Herbst recherchiert zu Jüdinnen und Juden, die sich mit anderer Identität aus dem Lemberger Ghetto absetzten. Ein Bericht über Menschen, die sich wehrten
Von Klaus Hillebrand
Es war Juni 1942, als Yirmiyahu Mützen damit begann, seine Flucht vorzubereiten. Ein Jahr zuvor hatte die Wehrmacht seine Heimatstadt Lemberg erobert. Nicht wenige Bewohner hatten den Einmarsch bejubelt, lösten die Deutschen doch die verhassten Sowjettruppen im Osten Polens ab, die die Region 1939 besetzt hatten. Mützen, Jahrgang 1921, zählte gewiss nicht zu diesen Nazi-Sympathisanten, denn er war Jude, so wie weit mehr als 100.000 Menschen in Lemberg. Und Juden galten einheimischen Antisemiten wie der SS gleichermaßen als Menschen, die es auszurotten gelte. Die Massaker begannen noch im Monat des Einmarsches.
„Am Eingang der Zitadelle stehen Soldaten mit faustdicken Knüppeln und schlagen hin, wo sie treffen. Am Eingang drängen die Juden heraus, daher liegen Reihen von Juden übereinander wie Schweine und wimmern sondergleichen“, notierte SS-Hauptscharführer Felix Landau befriedigt. Er hatte sich freiwillig zum Einsatz im Osten gemeldet.
Yirmiyahu Mützen wog ab, welche Möglichkeiten ihm blieben. Er könnte versuchen, versteckt bei christlichen Helfern zu überleben. Es bestand die vage Idee, sich sowjetischen Partisanen anzuschließen. Und schließlich gab es die Option, mit einer falschen Identität zu überleben. Nur hier, im von den Nazis eingerichteten Ghetto, zu bleiben und abzuwarten, das war für ihn keine Option.
Anfang Juli 1942 verschleppte die SS 7.000 Ghetto-Bewohner in das Lager Janowska und ermordete sie dort. Einen Monat später waren es 50.000 jüdische Frauen, Kinder und Männer, die in Züge mit dem Ziel Belzec gezwungen wurden. Belzec war ein reines Vernichtungslager.
Mützen entschied sich schließlich für die dritte Option, das Leben unter falscher Identität. Es gab in Lemberg – Ukrainisch: Lwiw, Polnisch: Lwow – Helfer, die Papiere fälschten. Und es kursierten im Ghetto Informationen darüber, dass man weiter im Osten vielleicht überleben könnte, zwar auch unter deutscher Besatzung, aber doch nicht in einem Ghetto.
80 Jahre später berichtet Ayelet Eva Herbst in einem Berliner Café von Yirmiyahu Mützens Entscheidung. Die israelische Historikerin recherchiert über ein unerforschtes Kapitel jüdischen Widerstands: die massenhafte organisierte Flucht aus Lemberg ins rund 1.000 Kilometer entfernte Dnepropetrowsk – heute das ukrainische Dnipro, damals ebenfalls von den Nazis besetzt. „Die Mehrheit derjenigen aus Lemberg, die den Holocaust überlebten, überstand den Massenmord irgendwo außerhalb der Stadt“, sagt Herbst. Vielleicht waren es Tausende, mit Sicherheit aber zweihundert Juden, die Zuflucht in Dnepropetrowsk suchten.
Die Fluchten beweisen, dass Jüdinnen und Juden sich eben nicht widerstandslos deportieren und ermorden ließen, auch wenn sich dieses Narrativ vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis heute im kollektiven Gedächtnis hält. Sie kämpften um ihr Leben.
1941 hofften viele Lemberger Juden, sie könnten in der Stadt irgendwie davonkommen. Herbst sagt: „Bis zu der großen Deportation hatten viele geglaubt, sie könnten überleben, wenn sie für die Machthaber nützlich seien – als Sklavenarbeiter. Aber nun wurden auch viele Menschen deportiert, die eine Arbeit hatten. Die Menschen begannen zu begreifen, dass Zwangsarbeit sie nicht vor der Ermordung schützen würde.“
Für eine Flucht bis nach Dnepropetrowsk waren die Hürden enorm hoch. Es galt nicht nur aus dem Ghetto zu entkommen, falsche Papiere zu besorgen und einen Zug zu besteigen. Die Probleme für die größtenteils Jiddisch sprechenden Verfolgten begannen viel früher. Herbst erklärt: „Man musste die christliche Mehrheitsgesellschaft kulturell und sozial verstehen und sich ihr anpassen. Man musste fließend und akzentfrei Polnisch sprechen können. Es gab sehr viele Faktoren, die es einzuhalten galt, um mit falscher Identität zu überleben.“
Deshalb war es besonders religiösen Juden nahezu unmöglich, diesen Rettungsweg einzuschlagen. Nur die wenigsten von ihnen sprachen akzentfrei Polnisch. Sie kannten die christlichen Gebräuche nicht. Herbst kennt nur einen einzigen Fall von einem Mann, der sehr religiös war und die Flucht überlebt hat.
Juden hätten alles nur Denkbare unternommen, um ihren verräterischen Akzent loszuwerden. „Es gibt Berichte, dass geflüchtete Juden Papier in die Backen stopften und den Nichtjuden erzählten, sie hätten eine Zahnoperation hinter sich und würden deshalb so seltsam sprechen – oder besser gar nicht sprechen“, berichtet Herbst über ihre Recherche.
Die 1982 geborene Herbst hat Dutzende Fluchtgeschichten recherchiert. Sie hat Archive durchwühlt, autobiografische Notizen gefunden und Kontakt zu den Kindern von Überlebenden geknüpft. Nach dem Krieg verstreuten sich diese in alle Welt, deshalb finden sich Berichte in Australien ebenso wie in Israel. Nur in Lwiw ist Ayelet Eva Herbst bisher nicht gewesen. Zuerst kam die Pandemie, dann der Krieg. „Ich bin in Kontakt mit Kollegen in Lemberg. Wir schauen, wann es endlich mit der Reise klappt. Ich möchte sehr gerne dort hin“, sagt sie.
Im Sommer 1942 erhielt Yirmiyahu Mützen Hilfe von Nachbarn seiner Tante, der über Kontakte zur polnischen Untergrundbewegung verfügte. So bekam er Papiere auf den Namen Yan Kot. Die Dokumente waren echt: Sie stammten von einem christlichen Mann, der seit dem Krieg 1939 vermisst wurde und dessen Eltern sich dazu bereit erklärt hatten, den neuen Namensträger als ihren Sohn zu identifizieren.
Andere Illegalisierte verließen sich auf Fälschungen, die der junge jüdische Grafiker Marian Pretzel im Ghetto in großen Mengen herstellte. Er besaß nach seiner eigenen Flucht den Mut, nach Lemberg zurückzukehren, nur um dort weitere Juden mit falschen Ausweisen auszustatten, berichtet Ayelet Eva Herbst. Dazu stellte sich Pretzel unter dem Namen Smolinski selbst einen „Marschbefehl“ aus, verziert mit einem Stempel seines angeblichen Arbeitgebers. Darin heißt es: „Der bei uns angestellte polnische Arbeiter Marian Smolinski ist vom 21. Dezember 1942 bis zum 22. Januar 1943 beurlaubt und begibt sich nach Lemberg und zurück. Es wird gebeten, ihn ungehindert passieren zu lassen und jede notwendige Hilfe und Unterstützung zu gewähren.“ Zusammen mit gleich 20 Männern sei er wieder aus Lemberg abgereist.
Illegalisierte Juden wie Pretzel und Mützen machten es sich zunutze, dass im fernen Dnepropetrowsk dringend Bauarbeiter gesucht wurden. Sie ließen sich, ausgestattet mit falschen Papieren unter der Identität eines christlichen Polen, in Lemberg anwerben. So konnten sie die Reise mit der Bahn wagen.
Dnepropetrowsk galt für Jüdinnen und Juden als vergleichsweise ungefährlich, allerdings aus entsetzlichen Gründen. Dort, im „Reichskommissariat Ukraine“, hatten Angehörige der Einsatzgruppe C im Herbst 1941 nahezu alle Jüdinnen und Juden ermordet. Dies führte dazu, dass der Verfolgungsdruck sank.
Herbst berichtet, dass Yirmiyahu Mützen alias Yan Kot im Oktober 1942 zusammen mit seinem Freund Yanek Levovski durch einen Onkel aus dem Lemberger Ghetto geschmuggelt wurde. Bald darauf fand ein gewisser Yan Kot einen Job bei einer deutschen Baufirma namens Kellner in Dnepropetrowsk. Der vorgebliche polnische Bauarbeiter nahm einen Zug und fuhr hin. Diese Art der Tarnung war nur Männern möglich. Deshalb, so Herbst, sei nur wenigen Jüdinnen die Flucht gelungen. „Frauen kamen in vielen Fällen zeitlich später an, als es schon ein Netzwerk von Juden mit falscher Identität gab“, sagt sie. „Manche Frauen erreichten Dnepropetrowsk auch unter dem Deckmantel einer Dolmetscherin.“
Wirklich sicher waren auch die männlichen Verfolgten keineswegs. Ihre christlichen Kollegen auf dem Bau durften keinen Verdacht schöpfen. Stets drohte, dass Polizei und SS bei einer Kontrolle ein gefälschter Ausweis auffallen würde. Auch in Dnepropetrowsk gab es Razzien. Bei einer solchen sollen 1943 mehrere hundert Juden verhaftet worden sein.
Die Historikerin Herbst vermutet, dass die Mehrheit der Geflüchteten nicht überlebt hat. „Sie haben aber keine Spuren hinterlassen, die ich finden konnte“, sagt Herbst. Wer nicht überlebte, habe in der Regel auch nichts hinterlassen. Allerdings gebe es Berichte von Überlebenden über Kameraden oder Familienangehörige, die es nicht geschafft haben.
Uri Lichter, ebenfalls ein geflüchteter Lemberger, erinnerte sich, dass er sich als Frau verkleidete, um einer Kontrolle zu entgehen. Herbst sagt dazu: „Bei einer gewissen Gefahr wechselte er wieder zu einer Frau, für Stunden oder Tage. Das gab es offenbar häufiger.“
Yirmiyahu Mützen, der als Yan Kot geflüchtet war, arbeitete bis Januar 1943 als Maler bei der Eisenbahn in Dnepropetrowsk. Weil seine jüdische Identität aufzufliegen drohte, ging er danach in die Stadt Poltawa und erhielt dort Arbeit als Bauarbeiter bei der deutschen Luftwaffe. Dazu erhielt er sogar eine Luftwaffenuniform, freilich ohne Rangabzeichen.
„Wenn es etwas gab, dass dir Schutz versprach, dann waren es diese Wehrmachtsuniformen“, meint Herbst. „Damit wurdest du nicht von der Schutzpolizei angehalten. Sie fragten nicht nach deinen Papieren.“ Später allerdings, als die Rote Armee immer näher rückte, seien diese Uniformen gefährlich geworden. Ihre Träger gerieten in den Verdacht, deutsche Spione zu sein. Man kaum erklären, dass man eine deutsche Uniform besaß und Jude war.
Mützen entging dem sowjetischen Geheimdienst. Er befand sich gegen Kriegsende in Rumänien. Später wanderte er nach Israel aus. Seine alten Namen legte er ab. Yirmiyahu Mützen nannte sich nach dem Mann, dessen Papiere ihm das Leben gerettet hatten: Yan Kot.
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