Nach dem Fall von Assad in Syrien: Douma sucht nach Gerechtigkeit
In der Rebellenhochburg verübte wohl das Ex-Regime 2018 einen Giftgasangriff. Lange trauten sich die Bewohner nicht, davon zu erzählen. Bis jetzt.
Ein ehemaliger Checkpoint der syrischen Armee an der Schnellstraße 5 ist menschenleer, das Häuschen von Schüssen durchsiebt. Ein Vorgeschmack auf das, was gleich kommen wird. Entlang der ländlichen Straße ziehen sich Felder, die vor Jahrzehnten Ost-Ghouta den Ruf als grüner Streifen Syriens einbrachten. Und vor ihnen stehen die Ruinen: Skelette aus Zement, aus denen Betonsäulen wie Arme in den Himmel ragen. Ausgeweidete Häuser, vom Leben verlassen.
Fährt man weiter hinaus, in die Kleinstadt Douma, wirkt die Landschaft in der nebeligen, grauen Luft des kühlen Morgens noch geisterhafter: Viele Häuser sind heute noch verlassen, die Außenwände mit Einschusslöchern übersät, Fensterscheiben und Türen teils herausgebrochen. Die nackten Ziegel sind schwarz vom Ruß, die fehlende Fassaden lassen ins Innere der Gebäude blicken: An einigen sind noch Spuren vergangener Pracht erkennbar – marmorähnliche Fliesen, verzierte Fenstergitter. Rostige Klettergerüste stehen auf dem verwaisten Kinderspielplatz.
Douma ist wie ein Tor in eine Vergangenheit, die man am liebsten hinter sich lassen und wieder vergessen möchte. Doch vergessen, das wollen die Einwohner*innen von Douma nicht. Und selbst wenn sie es möchten, wie könnten sie?
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„Wir sahen dickes, gelbliches Gas hereinströmen“
In einem recht gut befüllten Minimarkt, vor den Regalen voller Reis- und Nudelpackungen, steht Nasser Amir Hanan. Er will jetzt etwas tun, was er sich in den vergangenen sechs Jahren kaum getraut hat: erzählen. Hanan ist 28 Jahre alt und nach eigenen Angaben ein Überlebender des Giftgasangriffs auf Douma durch die Luftwaffe von Baschar al-Assad am 7. April 2018.
„Wir Männer machten uns gerade bereit für das Abendgebet. Wir hörten das Geräusch eines Geschosses, das auf das Dach unseres Gebäudes fiel.“ Wie die meisten Menschen habe er sich bereits in einem Schutzraum im Untergeschoss aufgehalten. Denn die Bomben seien den ganzen Tag lang gefallen. „Plötzlich hörten wir ein Geräusch wie von einem Gasleck und sahen dickes, gelbliches Gas in den Raum strömen. Wir rannten nach draußen. Die Menschen versuchten, in ihre Wohnungen zu gelangen, um sich das Gesicht abzuwaschen.“ Doch der Luftangriff habe bereits das ganze Haus mit Giftgas gefüllt. „Ich kam als Letzter aus dem Schutzraum und als ich endlich die Treppen erreichte, fühlte mich plötzlich sehr müde. Ich konnte noch etwa fünf Meter gehen, dann fiel ich zu Boden.“
Drei Tage, sagt er, lag er im Koma, bevor er in einem Krankenhaus aufwachte. Ehe er das Bewusstsein verlor, erinnerte er sich, sei Schaum aus seinem Mund gelaufen. Heute noch kämpft er mit den Nachwirkungen: Starke Gerüche seien für ihn kaum zu ertragen. In manchen Nächten wacht er mit Atemnot auf. Hanan zeigt auf seinen blauen Asthma-Inhalator, der auf dem Ladentisch liegt.
Hanan, eingepackt mit schwarzem Schal und dickem Kapuzenpullover, blickt ins Leere. Von seiner Familie hat er als einziger überlebt. Sein jüngerer Bruder, seine im siebten Monat schwangere Ehefrau, seine Mutter, Schwestern, Tante – alle starben. Kurz nach dem Luftschlag habe er aufgehört, mit Journalist*innen zu reden, sagt Hanan. Zu gefährlich sei das gewesen. Der Geheimdienst habe ihn im Krankenhaus mit dem Auto abgeholt, ihm gedroht, sollte er über den Vorfall sprechen. „Sie sagten, die Rebellen seien dafür verantwortlich.“
„Hier riefen die Menschen einst zur Freiheit auf“
Laut einer Untersuchung der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) soll am Abend des 7. April 2018 mindestens ein Helikopter der syrischen Eliteeinheit „Tiger Forces“ zwei Zylinder mit toxischem Chlorgas auf zwei Wohnhäuser in Douma geworfen haben. Einer landete auf dem Dach des Gebäudes, zerbrach, hochkonzentriertes Gas trat aus. Mindestens 43 Menschen starben, Dutzende wurden verletzt. Douma war damals schon lange eine Hochburg der Rebellengruppe Freie Syrische Armee und stand wie das gesamte Ghouta seit 2013 unter Belagerung von Assads Streitkräften. Dessen Regierung bestritt 2018 jede Beteiligung am Giftgasangriff.
Einige Kinder tragen Tüten voller frisches Brot nach Hause, laufen an Hanans Geschäft vorbei. Der 28-Jährige sagt, jetzt habe er alles erzählt. Und widmet sich wieder seinen Kunden. Es ist Samstag und auf der Straße sind vor allem Jugendliche zu sehen, gelegentlich auch ganz in schwarz verschleierte Frauen mit Einkäufen im Arm. Drei Kinder kicken nach einem Ball, und rennen dann in eine Gasse.
In einer dieser Gassen steht Tawfiq Ali Diab in Wollpullover und Mütze. Wenige Meter hinter ihm ragt ein halb kollabiertes, zersprengtes Gebäude in den Himmel. „Nach Beginn der Revolution riefen die Menschen hier einst zur Freiheit auf“, erzählt der 78-Jährige. „An dem Tag bewarf uns Assad mit Fassbomben.“ Diab war ebenfalls im Schutzraum, als die Gaskanister vom Himmel fielen. Zusammen mit seiner Ehefrau und den Kindern harrte er in dem beengten, unterirdischen Raum aus.
Tawfiq Ali Diab, Überlebender des Giftgas-Angriffs
„Gegen 19 Uhr fiel das Fass“, sagt er: ein dumpfer Aufschlag auf dem Dach. Er sei als Erster nach draußen gelaufen, sagt er. Die Menschen seien ihm nachgelaufen. Jemand habe geschrieben: „Chemieangriff“. Die Luft sei von dem gelblichen Gas gesättigt gewesen, habe im Hals gebrannt, den Atem ersticken lassen. Die Männer, Frauen, Kinder seien panisch losgerannt, auf der Suche nach Wasser. Und dann seien sie umgefallen, einer nach dem anderen.
„Sie drohten, mich nach Sednaya zu bringen“
Auch er selbst sei umgekippt, erzählt er. 40 Menschen seien an dem Tag gestorben, erinnert er sich. Diabs Familie war unter ihnen. „Meine gesamte Familie ist tot: Hanan, Omar, Mohammed, Ali, Joudy. Mein Bruder, meine Nachbarn. Nur sechs von uns blieben am Leben.“ Er zückt sein Handy und zeigt Bilder von lächelnden Kindern, einer jungen Frau.
Auch Diab berichtet von Verhören, Drohungen, Einschüchterungen durch den Sicherheitsapparat nach dem Angriff. „Sie drohten, mich nach Sednaya zu bringen“, dem berüchtigten Foltergefängnis nahe Damaskus. Und erzählt weiter: Von Leichen, die beschlagnahmt wurden. Von Menschen, die dazu gezwungen wurden, einen Meineid zu leisten, bloß nicht das Regime zu beschuldigen. Froh sei er, dass Assad jetzt weg ist.
In ganz Syrien feiern Menschen den Fall des ehemaligen Regimes. Auch in Douma sind sie glücklich, dass Assad weg ist. Doch Jubel, geschwenkte Fahnen und Feuerwerk, das freudige Erwarten, das in Damaskus auf den Straßen und in den Bars zu spüren ist, lässt sich hier kaum finden. Es ist eine leise Freude, die von Armut, Traurigkeit und Trauma überschattet wird. Von dem Kampf ums Überleben, an den sich die Menschen hier gewöhnt haben. Es bleibt das Gefühl, als hätte man auf der großen Syrien-Party etwas vergessen: diejenigen, die es sich nicht leisten können, zu feiern.
„Hier arbeiten wir nur, um zu essen“, sagt ein Mann, der anonym bleiben möchte. Und zeigt auf ein offenes Rohr, das aus einem Haus herausragt. Eine dicke, weiße Rauchwolke läuft aus, breitet sich in die gesamte Straße aus. Es riecht unerträglich chemisch. „Sie verbrennen Plastik, Verpackungen, um sich warm zu halten. Treibstoff können sie sich nicht leisten“, sagt er.
Der Preis für einen Baustein liege bei 2.000 syrischen Pfund, etwa 14 Cent, hinzu kommen 6.000 für die Handwerker. „Wenn wir die gesamte Stadt wieder aufbauen sollten…“, sagt er und schweigt dann. Sein Haus habe weder Fensterscheiben noch Türen, nur um sich aufzuwärmen habe er Tag und Nacht gearbeitet. „Diese Armut beeinflusst die Menschen“, betont er. Noch eher als die Politik.
Große Teile der Region Ost-Ghouta wurden im Krieg zerstört
In Douma ist Handy-Empfang nur schwer zu finden. Im Hintergrund sind immer wieder Schüsse zu hören, sie tragen zur martialischen Kulisse bei. Eine Katze sucht nach essbaren Resten in den verlassenen Mülltüten am Straßenrand. Einige Straßen weiter wühlt ein älterer Mann im Abfall.
Eine Satellitenanalyse der Vereinten Nationen zeigte Ende 2017, dass fast 4.000 Gebäude im westlichen Teil der Region Ost-Ghouta komplett zerbombt waren, 5.000 schwer und 3.500 zum Teil beschädigt. In einem der Dörfer dort, Jobar genannt, waren 93 Prozent aller Häuser zerstört. Während das syrische Armee von Assad die Region belagerte, waren nach Schätzungen des Norwegian Refugee Council mindestens zwölf Prozent aller Kinder unter fünf Jahren unterernährt.
Anderthalb Millionen Menschen lebten vor dem Krieg in Ost-Ghouta. Die Rebellen übernahmen 2012 die Kontrolle, bis sie sich 2018 in den Norden zurückzogen. In Douma, das in den Händen einer islamistischen Rebellengruppe war, hatten sich Ende März 2018 die letzten Widerstandskämpfer verschanzt. Nach dem Gasangriff vom 7. April flogen die USA, Großbritannien und Frankreich Luftangriffe auf drei von Assads Chemie-Munitionslagern.
Die Erzählungen der Menschen in Douma decken sich mit den Ergebnissen der Untersuchung von OPCW. Tawfiq Ali Diab hofft nun auf eine erneute Untersuchungskommission, die das Verbrechen in Douma beleuchtet. Und sagt: „Ich suche nach Gerechtigkeit in diesem Leben und sehe Gerechtigkeit im nächsten“. Der junge Nasser Amir Hanan lebt noch in seinem alten Haus. Doch die Möbelstücke habe er allesamt ausgetauscht. Sein einziger Wunsch ist ebenfalls: Gerechtigkeit.
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