: Chemnitz ist nicht Bayreuth
Mit dem Verliererimage brechen: Die einst reichste deutsche Industriestadt will sich im Kulturhauptstadtjahr neu erfinden. Das Programm setzt auf Breite statt auf Stars
Von Michael Bartsch
Chemnitz bleibt eben Chemnitz, möchte man resigniert in ein altes Lied einstimmen, das doch das Kulturhauptstadtjahr 2025 endgültig verstummen lassen will. Die rechtsextremen Heimatbeschmutzer der Freien Sachsen aus dem Erzgebirge werden mit einer Demonstration schon das Eröffnungsfest am 18. Januar stören. Dem wollen sich das Kulturbündnis Chemnitz und Initiativen wie „Demokrateam“ entgegenstellen. Die prognostizierten Teilnehmerzahlen auf beiden Seiten gehen in die Tausende.
Es ist ein Schlag gegen den Geist der erfolgreichen Bewerbung und der vierjährigen Vorbereitungsphase. Die will nach historischen Brüchen mit dem Verliererimage der ehemals reichsten deutschen Industriestadt brechen. Sie will vor allem aber dem Ruf positiv begegnen, Chemnitz sei ein Hort rechter und reaktionärer Gesinnungen. Der hatte sich verfestigt, nachdem es Ende August 2018 zu ausländerfeindlichen Ausschreitungen gekommen war, die auch von Teilen der Bevölkerung unterstützt wurden. Am Rande des Stadtfestes war ein Deutschkubaner nach Auseinandersetzungen erstochen worden, ein Iraker wurde später wegen Totschlags verurteilt.
Wenn Defätisten und Miesmacher ohnehin schon gegen Kultur und Bemühungen um städtischen Zusammenhalt stänkern, kann man am 18. Januar seinen Protest ebenso durch demonstratives Feiern äußern. Und sich über die europaweite Anerkennung einer selten objektiv betrachteten Stadt freuen. Ab 11 Uhr stellen in der Stadthalle 60 Projekte ihre Programmschaufenster vor. Der offizielle Festakt findet um 16 Uhr in der Oper statt. 18 Uhr ziehen 120 Freiwillige die „Hegel“-Dampflok aus der Hartmannfabrik durch die Innenstadt. Und ab 20 Uhr rasselt es in allen Clubs.
Wer in diesem Jahr nach Chemnitz reisen möchte, sollte dies vor allem in der Absicht tun, an den Transformationsbemühungen einer Stadtgesellschaft teilzuhaben. Ein umfassender Kulturbegriff bietet dafür die Basis. Noch ist Geschichte hier eher Last statt Lust. Verlusterfahrungen, aber auch Denunziationen überwiegen. Parallelen zur zweiten europäischen Kulturhauptstadt drängen sich auf, zur Doppelstadt Nova Gorica und Gorizia. Die Aufrechnung der Gräuel slowenischer Partisanen gegen den Terror italienischer Faschisten soll dort überwunden werden.
Chemnitz ist nicht Salzburg oder Bayreuth. Ein Kulturhauptstadtjahr ist kein Festival, bei dem der Politik- und der Geldadel sich und eine aufregende Garderobe ausführen. „Die Kulturhauptstadtbewerbung von Chemnitz entwickelt sich zum Katalysator für Stadtentwicklungsprozesse der nächsten zwei Jahrzehnte“, konstatierte stattdessen schon 2018 Ferenc Csák, der „Vater“ der Bewerbung und seit 2015 Leiter des sieben Einrichtungen umfassenden Kulturbetriebes der Stadt Chemnitz.
Csák wusste, dass auch die Vergabejury größten Wert auf „für die Stadtgesellschaft relevante Projekte“ legt. 1974 in Ungarn geboren, leitete er schon die Ungarische Nationalgalerie, war dort Staatssekretär für Kultur im Bildungs- und Kulturministerium und führte 2010 Pécs im Süden des Landes zum Titel der europäischen Kulturhauptstadt. „Nicht die Intendanten und Leiter der großen Kultureinrichtungen haben sich ein Programm für die Bewerbung überlegt, sondern alle haben dazu einen offenen Zugang“, erklärte er zwei Jahre vor dem Chemnitzer Vergabeerfolg Ende 2020. Die Spannweite der Beteiligungen reiche von den Kleingärten bis zu den großen Städtischen Kunstsammlungen.
Das klang 2020 in der heißen Phase der Vergabeentscheidung und zugleich in der ersten Coronawelle noch nach Wunsch und Ideal. Auf den Straßen von Chemnitz traf man damals sowohl Interessenten als auch Ignoranten. „Solchen Mist brauchen wir hier nicht!“ Ferenc Csák rechnete damals damit, dass man nur – aber immerhin – die Hälfte der Leute erreiche. Und schwärmte zugleich von der „Chance, einen Traum zu leben, und das mit wunderbaren Leuten“, sprach aber ebenso von einem „Weg, den wir mit der Taschenlampe gehen“.
Unter diesem Aspekt der Selbstentdeckung einer Stadtgesellschaft und der Breitenwirkung muss alles gesehen werden, was das 438 Seiten starke Programmbuch für 2025 auflistet. Beurteilt werden sollte der Erfolg am Ende dieses Jahres nach der mentalen Veränderung und weniger nach der Zahl verkaufter Eintrittskarten bei rund tausend Veranstaltungen. Zwei Millionen Besucher werden erhofft, 100.000 allein am Eröffnungstag.
875 Akteure setzen das Kulturhauptstadtprogramm in diesem Jahr um, 600 Volunteers sind im Freiwilligenprogramm beteiligt, 38 Kommunen aus der Region einbezogen. Das hat Chemnitz aus der gescheiterten Görlitzer Kulturhauptstadtbewerbung 2010 gelernt. Auch der unterlegene ostdeutsche Konkurrenzkandidat Zittau für 2025 setzte stark auf eine Vernetzung mit der Umgebung. In Chemnitz tut das am auffälligsten der Kunst- und Skulpturenweg „Purple Path“ mit zeitgenössischer Kunst in öffentlichen ländlichen Räumen, teils mit Bezug zur Bergbauregion. Und fünf Tage nach dem Jahresauftakt steuert beispielsweise am 23. Januar die Schumann-Philharmonie im 25 Kilometer entfernten Zwickau ein Eröffnungskonzert bei.
Schon seit zehn Jahren gibt es in den Chemnitzer Stadtteilen und Vororten Bürgerplattformen. Aktive Bürger, Vereine und Verwaltung arbeiten in lokalen Belangen zusammen. In der Vorbereitungsphase des Kulturhauptstadtjahres wurden sogenannte Interventionsflächen als Schwerpunkte fixiert. Ein 19 Kilometer langer Höhenwanderweg am Stadtrand dürfte das ausgedehnteste Projekt sein.
Bei der Programmvorstellung im Oktober 2024 führten Exkursionen an Orte, die den Schub für die Stadtentwicklung veranschaulichen. Ein ehemaliger Abfallhof im Südosten, bislang nur Abstellgelegenheit für Müllfahrzeuge, avancierte zu einer dieser Interventionsflächen. Auf 4.000 Quadratmetern entsteht ein Makerhub, ein Kreativhof „Stadtwirtschaft“ mit Veranstaltungssaal. Zwei Drittel der Kosten werden allerdings aus Städtebaumitteln des Bundes finanziert.
Die Neuentdeckung der etwa 30.000 noch zu DDR-Zeiten errichteten Garagen zieht sich wie ein Motivfaden durch das Programm. Ihre künstlerische Neubelebung bezog sich aber nur auf 3.000 dieser einst begehrten Autoschachteln und konzentriert sich inzwischen vor allem auf den Garagencampus im Ortsteil Kappel, einem ehemaligen Straßenbahndepot. Denn nicht alle Träume reiften im gewünschten Umfang. Die spektakuläre Pflanzaktion von 4.000 Apfelbäumen scheiterte schlichtweg am Geld.
Die verwirrende Vielzahl künstlerischer Veranstaltungen lässt sich bei den großen Institutionen noch am leichtesten überblicken. Das städtische Fünfspartentheater steckt alle Energie in die für September geplante Uraufführung der Oper „Rummelplatz“, Untertitel „Eine Oper über die (Un)Möglichkeiten des Lebens“. Es geht um ein fiktives Erzgebirgsdorf, den Bergbau, die Arbeit und die politischen Normierungen in der DDR. Die Schriftstellerin Jenny Erpenbeck schrieb das Libretto nach dem Roman des Chemnitzers Werner Bräunig, die Musik komponierte Ludger Vollmer.
Die auch zu überregionaler Reputation gelangten Städtischen Kunstsammlungen widmen sich in „European Realities“ den Realismusbewegungen ab 1920. Eine zweite Ausstellung zeigt Edvard Munch und will damit das Thema Angst illustrieren. Ausgesprochen auf Chemnitz zugeschnitten erscheint der ab April im Industriemuseum zu sehende Vergleich der Entwicklung ehemaliger europäischer Industriestädte. In Chemnitz wurden nicht nur Lokomotiven in der Hartmannfabrik gebaut. Der riesige Rangierbahnhof Hilbersdorf präsentiert sich in diesem Jahr auch als Europas größtes Eisenbahnmuseum. Analog trägt das Landesmuseum für Archäologie im früheren Schocken-Kaufhaus der Bergbauregion Rechnung. Die Ausstellung „Silberglanz und Kumpeltod“ spielt auf den Deputatschnaps für DDR-Bergarbeiter an.
Einen Beitrag zur Bewusstwerdung und Adaption der Geschichte in dieser Stadt der Brüche und Widersprüche dürfte ein einzigartiges Storytelling-Projekt leisten, das den engen sächsischen Horizont überschreitet. Im britischen Manchester und in Chemnitz entstehen in Schreibwerkstätten multimediale Geschichten. Beide waren Industriestädte und regenerieren sich, Chemnitz war noch stärker von Kriegsfolgen und der Deindustrialisierung nach der deutschen Währungsunion 1990 betroffen.
Bunt, weltoffen und angstfrei will sich Chemnitz zeigen und damit die Außenwahrnehmung von 2018 korrigieren. Ähnliches hatte 2018 auch Csák intendiert, wusste aber, dass sich Resistenz gegenüber billigen Verführern erst mittelfristig einstellt. Eine „Europäische Werkstatt für Kultur und Demokratie“ nimmt deshalb einen zentralen Platz im Programm ein. Aus 250 Anträgen sind 60 Projekte des Respekts vor Diversität, der Verständigung unter den Generationen und mit den Nachbarn ausgewählt worden. Kann schon der Kulturjahresauftakt mit einem Hauch von Lebensfreude dem trendigen Gejammer etwas entgegensetzen, erscheinen solche Bemühungen nicht aussichtslos.
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