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„Wir leben in einer realen Dystopie“

Heutzutage finden Utopien am Rande der Gesellschaft statt, sagt die Autorin Kübra Gümüşay. Für eine bessere Welt bräuchte es mehr kollektive Scham, insbesondere von Machthabenden

Interview Theresa Leisgang und Larry Faust

Mit Wortneuschöpfungen wie „Heizhammer“ oder „Verbotsmentalität“ malt die fossile Lobby ein hässliches Bild der klimaneutralen Zukunft. Gleichzeitig fehlen im deutschsprachigen Klimadiskurs bisweilen die Worte für eine positive Zukunftsvision. Die Autorin Kübra Gümüşay beschäftigt sich in ihrer Arbeit viel damit, wie Sprache und Denken unser Handeln beeinflussen. Zuletzt suchte sie in ihrem Bestseller „Sprache und Sein“ nach Worten für ein gemeinsames Denken in einer zunehmend polarisierten Welt.

taz: Kübra Gümüşay, Sie haben mal geschrieben: „Wer antritt, die Missstände unserer Gesellschaft zu bekämpfen, muss in zwei Welten leben. In der Welt, wie sie ist, und in der Welt, wie sie sein könnte, einer Utopie.“ Wie erleben Sie den Spagat zwischen diesen zwei Welten?

Kübra Gümüşay: Der Spagat wird einem besonders deutlich, wenn man in Verantwortung für andere Menschen ist, insbesondere für Kinder. Es ist nochmal ein besonderer Stretch, wenn es ein rassifiziertes Kind ist, das Ausgrenzung erfahren wird. Du musst einerseits die Welt erklären, wie sie derzeit ist, aber auch gleichzeitig den Blick dafür öffnen, dass es anders sein könnte. Zugleich sollst du diesem jungen Menschen die Werte mitgeben, die er braucht, um durch sein Handeln diese andere Welt auch selbst zu erschaffen.

taz: Müssen wir zuerst anerkennen, wie ernst die Lage ist und was fundamental falsch läuft, bevor wir uns die Utopie ausmalen?

Gümüşay: Ich war in den letzten Jahren sehr viel auf Recherche zu sogenannten realen Utopien – also zu Orten in der Gegenwart, in denen Menschen bereits Ideale und Werte umsetzen, die in der Gesamtgesellschaft nicht etabliert sind. Eine Beobachtung des US-amerikanischen Soziologen Erik Olin Wright ist, dass solche realen Utopien häufig an den Rändern unserer Gesellschaft zu finden sind. In einem Interview wurde ich dann von einer Journalistin gefragt, ob es auch reale Dystopien gebe. Zuerst fand ich die Frage irritierend, aber dann wurde mir klar, dass wir in einer realen Dystopie leben. Die Anzeichen sind überall sichtbar.

taz: Wo sehen Sie die reale Dystopie im Jahr 2024 besonders deutlich?

Gümüşay: Ist es keine dystopische Gegenwart, wenn in bestimmten Teilen der Erde ein würdevolles Leben verunmöglicht wird? Es gibt so viele Beispiele: Statt ein würdevolles Leben in Frieden und Gerechtigkeit für alle zu ermöglichen, fließen derzeit Milliarden in die Aufrüstung, in die aktive Verwüstung und Zerstörung von Mensch und Umwelt, in Kriegsverbrechen. Aber wir müssen gar nicht weit weggucken. Es reicht eigentlich schon ein Spaziergang zu den Hauptbahnhöfen in deutschen Großstädten: Ist es nicht ungeheuerlich, dass in einer der reichsten Industrienationen Menschen unfreiwillig obdachlos sind? Dass sie nicht nur ohne Obdach leben, sondern auch noch systematisch ausgegrenzt und kriminalisiert werden, selbst durch absurde Banalitäten wie eine Architektur, die eigens Parkbänke mit Zwischenlehnen kreiert, damit Bedürftige sich nicht hinlegen können? Diese reale Dystopie ist die Luft, die wir atmen. Sie ist unsere Normalität.

taz: Kli­ma­jour­na­lis­t*in­nen werden viel mit dem Anspruch konfrontiert, Erzählungen über die Welt in der Klimakrise müssten konstruktiv sein. Sollten wir reale Dystopien nicht auch klar benennen?

Gümüşay: Ja klar! Zu skandalisieren was ist, ist ein wichtiger Schritt, um überhaupt eine andere Welt denken zu können. Was ich schwierig finde, ist, wenn man bei diesem ersten Schritt verweilt. Die Skandalisierung der Welt muss einhergehen mit dem Öffnen des Blickes dafür, was stattdessen sein könnte. Ohne das verfallen wir in Ohnmacht. Wer schon einmal mit Menschen gesprochen hat, die in Kriegsgebieten leben mussten, weiß: Es ist nicht so, dass die Menschen dort die ganze Zeit unglücklich vor sich hinvegetieren. Da findet Freude statt und Tanz und Kunst – trotz allem. Menschen sind adaptiv, sie können trotz widrigster Umstände Schönheit erschaffen. Das zeigt uns wie Widerständigkeit auch aussehen kann.

Schämen wir uns als Gesellschaft denn genug für den Schaden und die Gewalt, die wir in der Welt anrichten?

taz: In den Klimawissenschaften richtet sich der Blick oft in die Zukunft und beleuchtet dystopische Szenarien im Jahr 2050, oder zum Ende des Jahrhunderts. Welche Wirkung hat das?

Gümüşay: Die Frage ist doch: Wie sehr muss es brennen, damit ein Zustand als Notstand erkannt wird? Es gibt immer mehr Daten, die die Realität belegen, aber es findet keine ausreichende Veränderung in der Art und Weise statt, wie politisch entschieden und gehandelt wird. Mehr Daten und mehr Skandalisierungen allein ändern leider nichts.

taz: Viele Menschen weltweit leben ja bereits heute ganz real in einer zerfallenden Welt. Das machen Sie in Ihrer Arbeit immer wieder deutlich.

Gümüşay: Menschen, die soziale Umwälzungen oder Migration durchlebt haben, schlicht jede Person, die aus einem Raster gefallen ist, weiß um die Veränderlichkeit der Welt. Es ist absolut realitätsfern, die aktuelle Krise als „neue Herausforderung“ zu betrachten. Das kann nur jemandem einfallen, der sich aus dem Lehnsessel heraus, fernab jeglicher Praxis, lediglich theoretische Gedanken macht.

taz: Die Diskussion um die Zukunft scheint momentan genau diesen Männern zu gehören, die aus einem solchen Lehnsessel heraus die Welt betrachten, oder?

Gümüşay: Einer Vision wie der von Elon Musk – etwa die Besiedlung des Mars, im Grunde eine Dystopie – wird nicht konsequent mit Abwehr begegnet, stattdessen zieht sie gar Milliardeninvestitionen an. Da frage ich mich: Warum gilt es als utopisch, also unmöglich, über eine Welt ohne Grenzen, Polizei und Gefängnisse nachzudenken, während ein Businessplan zur Bevölkerung des Mars als realistisch betrachtet wird? Diese Diskrepanzen zeigen, dass wir absichtlich realistische Ideen als utopisch abtun. Dabei sind sie darüber hinaus dringend notwendig.

taz: Welches Potential sehen Sie darin, wenn wir kollektiv anerkennen, dass wir gerade scheitern? Ganz persönlich fällt es uns oft nicht leicht, Fehler zu machen – wir haben gelernt, uns dafür zu schämen.

Gümüşay: Ein Stichwort spielt da eine zentrale Rolle und das ist die Scham. Scham wird ja häufig als etwas betrachtet, was wir hinter uns lassen sollten. Und gleichzeitig erleben wir, wie gewaltvoll der Mangel an Scham wirkt – wenn jemand schamlos Menschen unterdrückt, andere hintergeht oder lügt, bloß weil er juristisch oder vonseiten mächtiger Institutionen keine Konsequenzen fürchten muss. So orientiert sich das Handeln an externen Bestrafungssystemen. Ein gesundes, inneres Maß an Scham hingegen ist in einer Gesellschaft wichtig und ermöglicht uns, aus Fehlern zu lernen.

taz: Die Debatte über Flugscham hat bisher zumindest gefühlt zu wenig Einsicht und Veränderung geführt …

Gümüşay: Es ist wichtig, hier zu unterscheiden zwischen Scham auf individueller Ebene und auf der strukturellen Ebene der Macht. Ein sehr destruktives diskursives Werkzeug ist die Abwälzung von strukturellen Missständen auf individuelles Handeln. Zum Beispiel eine Aktivistin zu beschämen, weil sie eine Flugreise macht, während die tatsächlich Verantwortlichen in der Politik sich nicht schämen, selbst jene Ziele nicht erreicht zu haben, mit denen sie zu Beginn der Legislaturperiode angetreten sind. Im politischen Betrieb, auf der Ebene der Macht, fehlt diese gesunde Scham.

taz: Also geht es weniger um das kollektive Scheitern, sondern vielmehr darum, dass wir uns kollektiv zu wenig schämen?

Gümüşay: Schämen wir uns als Gesellschaft denn genug für den Schaden und die Gewalt, die wir in der Welt anrichten? Ich denke, ein so unbequemes Gefühl wie Scham kann uns dabei helfen zu erkennen, wo wir stehen und wo die Grenzen anderer sind, wenn wir diese überschreiten und ungewollt Schaden anrichten, auch jenseits rechtlicher Zwänge. Doch ohne innere, gesunde Scham bleiben diese Grenzüberschreitungen viel zu häufig konsequenzlos. Andererseits kann uns zu viel Scham handlungsunfähig machen. Eine gesunde Portion würde dazu führen, dass wir erkennen, wo wir ausgrenzen, unterdrücken, schaden – das ist der Moment, in dem wir wachsen können. Das kann ein sehr schmerzvoller Prozess sein. Gleichzeitig ist es auch immer der Moment, an dem ein Mensch an die Grenzen des eigenen Horizonts stößt und die Chance hat, diesen Horizont zu erweitern.

Das Gespräch entstand im Kontext eines einjährigen Forschungsprojekts und ist in längerer Fassung unter folgender Internetadresse zu finden:

www.klima-kollaps-kommunikation.de

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