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Die Bedingung der Möglichkeit von Trost

So schwierig das zu Ende gehende Jahr war, es hinterlässt vielleicht auch – mit aller Vorsicht gesagt – eine neue Sensibilität für tröstliche Dinge. Was folgt daraus?

Von Dirk Knipphals

Als dieses sowieso schon verdüsterte Jahr 2024 am dunkelsten war, in den Tagen nach der Trump-Wahl, wurden die Gäste auch der gesellschaftsanalytischen Podcasts gern gefragt, wie sie die vielfältigen Krisen aushalten würden, und überhaupt, was sie denn in der gegenwärtigen Lage trösten würde. Das waren oft schöne, nahbare Momente, getragen von tatsächlichem Interesse. So ganz klar war es dieses Jahr ja nicht immer, wie es einem gelingen soll, an der Lage nicht zu verzweifeln.

Die Antworten auf diese Fragen waren jetzt nicht sonderlich originell, aber darauf kam es, stellte man beim Zuhören fest, auch gar nicht an. Die einen fuhren viel Fahrrad, das würde sie in einen anderen Zustand bringen, meinten sie. Andere werkelten noch im Garten oder freuten sich darauf, spätestens im nächsten Frühjahr wieder im Garten zu buddeln, oder sie fuhren Rollschuh oder machten anderes. Die basalen Dinge. Rausgehen, frische Luft, Naturerlebnisse, Bewegung. Die schiere Tätigkeit der Muskeln hat schließlich etwas von einem Antidepressivum.

Das neue Album von The Cure wurde in jenen Tagen auch auffällig oft erwähnt, und zwar nicht trotz, sondern gerade wegen seiner ausgestellten Düsternis. Die elegischen Moll­akkorde über den wie in Trance zuckenden Trommelschlägen des „Endsongs“, der das Album abschließt, dazu der klagende, immer wieder wiederholte Gesang „It’s all gone“ – das wirkte tatsächlich wie ein wie durch ein Wunder ausgerechnet in diesen dunklen Tagen auf uns gekommener Balsam.

Was man also präsentiert bekam, waren vielfältige individuelle Strategien des Getröstetwerdens – und, so seltsam es ist, schon das war tröstlich. Im Nachhinein kann man sich fragen: Was war so tröstlich daran? Auffällig war zunächst dies: Das Tröstliche lag nicht an der Vermittlung von Hoffnung. Darum ging es in diesen Auskünften gar nicht, jedenfalls nicht gleich. Was auch gut so war. Nichts gegen Hoffnung, aber Trost braucht man nun einmal besonders, wenn man sie gerade nicht hat. Den billigen Trost des „Das wird schon wieder“ hätte man vielleicht sogar als unangemessen empfunden, so tröstet man Kinder.

Erwachsener Trost hat, wie man dagegen in diesen dunklen Tagen erfahren konnte, offenbar zur Voraussetzung, dass man sich mit seiner Trostbedürftigkeit wiederfinden kann in der Trostbedürftigkeit der anderen. Dabei geht es sicherlich um Entlastung – wenn die anderen trostbedürftig sind, darf man selbst es auch sein –, aber nicht nur. Trostbedürftigkeit ist auch Gemeinschaft stiftend, man fühlt sich einander nahe. Und als ob man sich an einem Gerüst entlangtasten würde, hilft es einem auch, hinzusehen und tief hinabzusteigen in seine eigene Trostbedürftigkeit und Trauer – um schließlich aus diesem Tal wieder aufzutauchen.

Eine Bewegung, die auch die Reaktion auf The Cure erklärt. Sich von dieser Düsternis in Wellen umspülen zu lassen wie von einer Brandung hat eben nichts Deprimierendes, sondern etwas Kathartisches.

Um diesen Umschlag von Trauer in Trost zu beschreiben, hat der Philosoph Theodor W. Adorno keine Metapher des Hinabsteigens, sondern das Bild einer Kuppel verwendet. Die Töne der avancierten Musik legen sich über die Klage der „verlassenen Kreatur“, meinte er und fuhr mit einem schillernden Satz fort: „Auf der Kuppelhöhe aber wandelt [Trauer] sich in Trost.“ Den Gedanken, dass Adorno The Cure wahrscheinlich eher nicht zur avancierten ernsthaften Musik gezählt hätte – keine Zwölftontechnik –, lassen wir jetzt mal beiseite.

Die Autorin Hanna Engelmeier zitiert diesen Adorno-Satz in ihrer sowieso lesenswerten Studie „Trost. Vier Übungen“, in der sie die Trostbedürftigkeit des Menschen intellektuell abtastet und sich dabei auch in ihrem Bücherregal auf die Suche nach Trost begibt, Rainer Maria Rilke, David Foster Wallace, Eileen Myles sind ihre Bezugspunkte. Dass sie dabei auch auf Adorno stößt, ist erst einmal überraschend. Schließlich ist der Doyen der Kritischen Theorie ein zutiefst düsterer Denker, der gegen die falschen Tröstungen der Kultur­indus­trie in seinen Schriften viele Bannsprüche hinterlassen hat. In der verkürzten Lesart der Nach-68er-Jahre fühlten sich viele seiner Le­se­r*in­nen darin bestärkt, das Nachdenken über Trost unter Generalverdacht zu stellen. Trost dürfe, so lässt sich diese Lesart zusammenfassen, nicht sein, weil er nur das Individuum mit seiner Lage versöhne und damit gesellschaftliche Konflikte befriede, die doch eigentlich kritisiert werden müssen.

Doch kann man bei Hanna Engelmeier lernen, dass die Anrufung des Getröstetwerdens ein durchgängiges Motiv des Denkens von Adorno ist, es darf eben nur kein vorschneller Trost sein. Zu bedenken ist außerdem, dass dieses Denken nicht nur „nach Auschwitz“, sondern auch in einer Zeit stattfand, in der öffentlichen Gefühlen immer noch mit Kältelehren begegnet wurde – der deutsche Mann weint nicht, die deutsche Mutter lässt ihr Kind schon mal schreien –, was wie in einem Ventil etwa zu Gefühlsseligkeiten in einem sentimental restlos überladenen Weihnachtsfest führte. In der stillen Nacht konnten die abgehärteten Männer und Frauen von vor zwei, drei Generationen andächtig ihre Trostbedürftigkeit ausleben, aber eben auch nur da. (Was nicht gegen ein tröstliches Weihnachten per se spricht.)

Insofern lässt sich die Art und Weise, wie sich gegenwärtig über Möglichkeiten des Trostes ausgetauscht wird, geradezu als gesellschaftliche Errungenschaft beschreiben. Sie lässt sich eintragen in den Bildungsroman einer Gesellschaft, die allmählich lernt, mit den sie begleitenden Gefühlen umzugehen. Das Jahr 2024 zeigte allerdings auch, dass dieser Fortschritt keinem Automatismus folgt. Die Wahlerfolge der AfD lassen sich auch lesen als Versuche, sich gegen die Schicksale der anderen – der Migranten und Geflüchteten etwa – abzugrenzen und die Kollektivität wieder in der Abstammung zu suchen und nicht unter anderem in der gegenseitigen Solidarität von Trostbedürftigen.

Wenn man der positiven Seite der Entwicklung folgen möchte, kann man immerhin feststellen, dass der Trost nicht mehr nur ins Metaphysische abgeschoben wird (Utopie, Erlösung) und auch nicht mehr der Religion überlassen (Krippe, Auferstehung), sondern dass er im Hier und Jetzt gesucht wird. Ja, mehr noch, die Suche nach Trost ist geradezu zu einer gesellschaftlichen Produktivkraft geworden, was sich zum einen in solchen Produktpaletten wie Comfort-Food und Kuschelstrickjacken niederschlägt und sicher auch konsumkritisch gesehen werden kann. Was zum anderen aber auch nun einmal zu den Leistungen gehört, die jeder Einzelne in der modernen Gesellschaft für sich erbringen muss, um sich über Wasser zu halten.

Dass das nicht leicht ist, zeigen die komplizierten psychischen Probleme der Gegenwart. Bei den Ambivalenzen und vielfältigen Anforderungen, denen man ausgesetzt ist, bleibt manchmal nur der Trost des Weitermachens. Und die Einsicht, dass die Alternativen schlimmer sind. Kann man sich zum Beispiel die russische Gesellschaft, die sich von ihrem offiziellen Selbstverständnis her offenbar gegen einen angeblich verweichlichten Westen definiert, mit ihren Verhärtungen bis hin zu Menschenopfern im Krieg im Ernst anders als zutiefst trostlos vorstellen?

„Auf der Kuppelhöhe aber wandelt Trauer sich in Trost“

Theodor W. Adorno

Dagegen ließen sich hierzulande rund um die Trump-Wahl vielleicht sogar erste Ansätze einer Kultur des Tröstens wahrnehmen. Dazu gehört, sich gegenseitig zu erzählen, was einen trösten kann. Es muss eben nicht immer Leonard Cohen sein oder die Entdeckung des verwundeten Fürsten Andrej in „Krieg und Frieden“, wie hoch der Himmel ist. Wie erfinderisch die Gegenwartsmenschen ihren Alltag darauf hinkonstruieren, sich mit tröstlichen Momenten zu umgeben, lässt sich in der fast schon klassischen Studie „Der Trost der Dinge“ von Daniel Miller nachlesen.

Die Sensibilität für tröstliche Dinge – das Aufrascheln von Blättern im Wind, das geölte Klackern des Zahnrads auf einer Radtour, die warme Sonne, die sich bei einem Strandspaziergang durch die Wolken kämpft, der kleine anerkennende Seitenblick während einer Sitzung auf der Arbeit – ist etwas, was das gepanzerte Subjekt des Neoliberalismus vielleicht nicht ablöst, das wäre zu viel gehofft, aber doch sich danebenstellen lässt. So individuell diese Sensibilität erscheinen mag, die Gesellschaft ist in ihr drin. Um sie auszubilden, braucht es gesellschaftlich geteilte Bilder und Szenarios. Letztlich besteht der Trost ja darin, gegenseitig anzuerkennen, dass das Leben einem nicht leicht gemacht wird.

Viel wäre noch darüber zu schreiben, wie schwer es sein kann, die richtigen Worte und Gesten für Trost zu finden. Wer je neben einem vor nackter Trostlosigkeit bebenden Menschen saß, der gerade seinen Lebenspartner verloren hat, weiß das. Da kann einem keine Politik helfen.

Festhalten sollte man aber auch, dass es politische Entscheidungen sind, die eine Kultur des Tröstens ermöglichen oder auch behindern können. Es sind gar nicht mal die großen, systemumfassenden Dinge, es sind die kleinen Dinge. Für tröstliche Radtouren braucht es Radwege, für Naturerlebnisse Bäume und Parks, für Begegnungen Räume, in denen man sich begegnen kann, wie Bibliotheken, Schwimmbäder, Theater und Spielplätze. Eine Politik des Tröstens wäre eine, die sich keineswegs anmaßt, selbst trösten zu können, sondern individuellen Trost ermöglicht.

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