: „Entscheidungen sind immer auch mit Verlust verbunden“
Als Biografieforscherin wertet Irini Siouti Lebensgeschichten aus und erkennt darin Strukturen. Hier spricht sie über Was-wäre-wenn-Fragen und warum der Begriff Schicksalsschlag für sie keine Rolle spielt
Interview Katharina Federl
taz: Frau Siouti, was ist Ihre Aufgabe als Biografieforscherin?
Irini Siouti:Ganz vereinfacht gesagt, lasse ich mir von Menschen ihre Lebensgeschichte erzählen, schreibe diese wortwörtlich auf und werte sie anschließend aus. Aus den Erzählungen arbeite ich dann den sogenannten Strukturverlauf oder die Strukturlogik einer Biografie heraus. Das bedeutet, ich versuche die Interpretationen von Menschen nachzuvollziehen und damit zu rekonstruieren, wie sie ihre Lebensgeschichten erzählen, erlebt haben und deuten.
taz: Was lässt sich mithilfe von Biografien herausfinden?
Siouti: Über Biografien kann ich vor allem einen Zugriff auf die sozialen Verhältnisse erlangen. Wenn ich jetzt mal von meinen Forschungsfeldern ausgehe – das sind die Migrationsforschung und die Bildungsforschung –, kann ich beispielsweise die Frage beantworten, wie Menschen mit Flucht- und Migrationserfahrungen politisch partizipieren. Dazu erforsche ich die Beweggründe und die Auswirkungen von Migration auf die Lebensgeschichte von Menschen, auf die erste Generation, aber auch auf ihre Nachkommen.
taz: Lebensentscheidungen wie die, das Herkunftsland zu verlassen und zu migrieren, spielen in der Biografieforschung eine entscheidende Rolle. Welche Merkmale haben solche Entscheidungen?
Siouti: Na ja, wir müssen ja im Grunde ständig Entscheidungen treffen im Leben. Aber es gibt eben einen Unterschied zwischen alltäglichen Entscheidungen, über die wir uns kaum Gedanken machen – zum Beispiel, wann ich mir wie meinen Kaffee am Morgen zubereite –, und ganz wichtigen Entscheidungen, die unsere Lebensgeschichte nachhaltig prägen, wie etwa: Ich entscheide mich auszuwandern, einen bestimmten Studiengang zu studieren oder eine Partnerschaft einzugehen. Auf der Grundlage solcher Entscheidungen machen wir bestimmte Erfahrungen. Das Ergebnis dieser Erfahrungen ist das sogenannte biografische Wissen, das wir verwenden, um Handlungsoptionen zu entwickeln und wieder neue Entscheidungen zu treffen.
taz: Gibt es ein Muster, wann und warum Menschen Lebensentscheidungen treffen?
Siouti: Es gibt auf jeden Fall bestimmte Muster oder Typen, die wir immer wieder in Erzählungen finden. Ein Typ trifft zum Beispiel sehr schnell Lebensentscheidungen, während ein anderer nur schwer entscheiden kann oder gar nicht und das am liebsten anderen überlässt. Wann und warum Menschen Entscheidungen treffen, das ist individuell sehr unterschiedlich. Das hängt vor allem von ihren spezifischen biografischen Erfahrungen ab, aber auch von psychologischen Dispositionen. Und manchmal ist es auch so, dass die Frage nach den individuellen Lebensentscheidungen gar nicht unbedingt an den einzelnen Individuen hängt, sondern an den sozialen Verhältnissen und den äußeren Umständen.
taz: Können Sie ein Beispiel nennen?
Siouti: Wenn ich in einer Stadt wohne, in der ein Erdbeben oder eine Überschwemmung passiert, und ich von heute auf morgen keine Bleibe mehr habe, dann ist das ja nichts, das ich selbst entschieden habe. Es ist sozusagen ein von den äußeren Umständen herbeigeführter Leidensprozess.
taz: Viele Menschen ordnen Ereignisse als Schicksalsschläge ein. Was halten Sie von dem Begriff?
Siouti: Ich selbst verwende den Begriff nicht in meiner Forschung. Es gibt aber durchaus viele Menschen, die das in ihren Erzählungen tun. Damit wollen sie beschreiben, dass sie bestimmte Ereignisse in ihrem Leben als von höheren Mächten vorherbestimmt oder von Zufällen bewirkt empfinden. Also dass die eigentlich ihrer individuellen Entscheidungsfreiheit entzogen waren. Nehmen wir mal ein Beispiel: Ich entscheide mich, in eine andere Stadt zu ziehen, und lerne dort meine beste Freundin kennen. Ob ich das jetzt als Schicksal empfinde oder nicht, hat auch mit meiner Haltung zu tun: Liegt der Verlauf meines Lebens eher in meinen eigenen Händen oder ist alles vorherbestimmt durch irgendeine Macht, die unsere Lebenswege lenkt? Von Schicksal sprechen Menschen auch oft im Zusammenhang mit Krankheiten und Todesfällen. Da kann das schon auch was Tröstliches haben.
taz: Wenn Menschen auf bestimmte Ereignisse in ihrer Vergangenheit zurückblicken, stellen sie sich oft Fragen wie: „Was wäre gewesen, wenn ich anders entschieden hätte? Wäre ich jetzt ein anderer Mensch, hätte ich das nicht gemacht?“ Gibt es dafür bestimmte Auslöser?
Siouti:Das ist ein sehr spannender Punkt. In der Biografieforschung sprechen wir in solchen Fällen von einer Dimension des ungelebten Lebens. Das wird oft in lebensgeschichtlichen Erzählungen sichtbar, wenn Menschen Bilanz ziehen und sich fragen, wie ihr Leben wohl verlaufen wäre, wenn sie so und nicht anders entschieden hätten. Dabei würde ich nicht sagen, dass es dafür einen bestimmten Auslöser gibt. Denn es ist ja grundsätzlich so, dass eine verbindliche Entscheidung für eine Möglichkeit mit dem Verlust aller alternativen Optionen verbunden ist. Das ist eben das unvermeidliche Dilemma, wenn ich mich entscheide. Das heißt, wenn ich den Studiengang Soziologie wähle, dann entscheide ich mich zugleich auch gegen ganz viele andere Studiengänge, die ich hätte anfangen können.
taz: Kann ich in dem Sinne also gar keine richtige Wahl treffen?
Siouti: Das kommt wieder ganz auf die individuelle Sichtweise an. Wenn ich ganz zufrieden mit meinem eigenen Leben und den Entscheidungen bin, die ich in der Vergangenheit getroffen habe, dann stelle ich mir vielleicht weniger die Frage, was gewesen wäre. Prinzipiell würde ich aber sagen, dass es total verbreitet ist, sich solche Fragen zu stellen, und ein logisches Ergebnis biografischer Reflexionsprozesse.
Irini Siouti
ist Professorin für Empirische Sozialforschung mit Schwerpunkt Migration und Beratung an der Frankfurt University of Applied Sciences. Dort ist sie zudem die geschäftsführende Direktorin des Instituts für Migrationsforschung.
taz: Ein Sprichwort besagt, wir würden nur die Dinge bereuen, die wir nicht getan haben. Stimmen Sie zu?
Siouti: Tendenziell schon, ja, aber das hängt wirklich sehr stark vom Kontext ab. Bei einigen Entscheidungen, die man hinterfragt, ist es am Ende ja doch so, dass man aus den Erfahrungen lernt und sie deshalb wichtig waren. Deshalb regt man bei Kindern auch immer mal an: Du musst deine eigenen Erfahrungen machen, das Leben ist ein Lernprozess.
taz: Gibt es also auch keine falschen Entscheidungen?
Siouti: Ob eine Lebensentscheidung einer Person richtig oder falsch war, das muss die jeweilige Person schon selbst entscheiden. Oft ist es ja so, dass Menschen im Leben Erfahrungen machen, die für sie ganz schwierig sind zu verarbeiten oder die nachhaltig schwerwiegende Folgen haben. Und da ist es durchaus nachvollziehbar, dass Menschen bei einer biografischen Bilanzierung sagen, sie hätten sich für sich gewünscht, diese Erfahrung nicht gemacht zu haben. Das muss man dann auch so annehmen, je nachdem wie das subjektiv von den Menschen erlebt und gedeutet wird. Wenn es jetzt um grundsätzliche gesellschaftliche Fragen geht oder um politische Entscheidungen, ist das aber noch mal eine ganz andere Frage, die ich auch anders beantworten würde.
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