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„Unsere Daten sind inzwischen ein kostbarerer Rohstoff als Öl und Gas“

Eine Autonomie des Subjekts gibt es nicht, meint Agnieszka Kurant, und Bakterien prägen unser Bild der Vergangenheit. Ein technikphilosophisches Gespräch mit einer Künstlerin, die biologische und künstliche Intelligenz untersucht

Das steinartige Gebilde „Post-Fordite“ besteht aus menschlich hergestellten Mineralien, dem Zufallsprodukt Fordit, das durch Lackablagerungen bei der Autoherstellung entstanden ist; Blick in Agnieszka Kurants aktuelle Ausstellung „Risk Landscape“ Foto: Mareike Tocha/Mudam Luxembourg, 2024

Interview Astrid Kaminski

taz: Agnieszka Kurant, durch Technik kann „natürliches Leben“ erzeugt werden. Ist das nicht, wenn man die Begriffe trennt, ein Widerspruch in sich?

Agnieszka Kurant: Wir sind inzwischen in der Lage, komplett synthetische Organismen zu produzieren, die jedoch lebendig sind und aus organischer Materie bestehen. Interessanter wird es, wenn wir uns die Frage stellen, wie es eigentlich dazu kommen konnte. Wer hat die erbgutverändernde Technologie CRISPR erfunden? Wie lassen sich Fragmente aus der DNA eliminieren? Diese Technologien wurden genauso von Bakterien wie von Wis­sen­schaft­le­r:innen entwickelt – oder zumindest von Bakterien ermöglicht. Für meine Arbeit „Adjacent Possible“ habe ich selbst zum Beispiel mit „lebendigen Pigmenten“ gearbeitet, die ich anhand von manipulierten Bakterien hergestellt habe. Das Vorbild dazu waren Cyano-Bakterien. Die sind für die Konservierung von der paläolithischen „Gwion-Gwion“-Felsmalerei verantwortlich. Sie tun das durch eine permanente Nachkolorierung, sodass sie die Vorlage in „lebendige Gemälde“ verwandeln. Das geschieht nicht intentional, aber Fakt ist, dass Bakterien zu unseren zeitgenössischen Technologien und zum Bild, das wir von der Vergangenheit haben, beitragen.

taz: Was meinen Sie, wenn Sie Begriffe wie „kollektive Intelligenz oder „plurale Subjektivität“ verwenden?

Kurant: Eine Autonomie des Subjekts gibt es nicht. Nichts in der Welt funktioniert autonom. Das Erzeugen eines einzigen Gedankens auf Grundlage der Interaktion von Millionen von Neuronen ist bereits ein Produkt kollektiver Intelligenz. Auf dieser Basis ist auch unser Zusammenwachsen mit digitaler Technik zurückzuführen. In dem Buch „Collective Intelligence“ bezeichne ich diese Entwicklung, im Dialog mit Den­ke­r:in­nen wie Catherine Malabou und Franco Bifo Berardi, mit dem Ausdruck „Plastizität des kollektiven sozialen Gehirns“. Damit beziehe ich mich auf die Tatsache, dass Menschen als Individuen, aber auch die Menschheit an sich, Verhaltensweisen adaptiert haben, die stark von digitaler Technologie beeinflusst wird. Das einfachste Beispiel ist der Gebrauch des Smartphones als Prothese. Menschliche Orientierung ist ohne GPS nicht mehr vorstellbar, unser Orientierungssinn wurde technologisch ersetzt. Auch der Erinnerungssinn wurde stark verändert. Wir outsourcen unsere individuellen Sinne an ein kollektives Gehirn. Dieses kollektive Gehirn ist aber, da es nur über Technologie funktioniert, die durch nicht-menschliche Energien und Mineralien gespeist wird, sowohl ein Produkt menschlicher als auch nichtmenschlicher Intelligenz.

taz: Was bedeutet das in Bezug auf Autonomie?

Kurant: Dass wir ein „hacked animal“ sind. Von innen beeinflussen Bakterien und Viren unsere Entscheidungen, die Neurotransmitter unseres Gehirns, und von außen digitale Technologien, Algorithmen.

taz: In Ihrer Installation „Chemical Garden“ benutzen Sie Metallsalze, die für die Herstellung von Computern benötigt werden. Es handelt sich um anorganische Materialien, die in flüssigem Glas auf scheinbar organische Art reagieren. Was leiten Sie daraus ab?

Kurant: Meine Arbeit zeigt, dass auch nicht-lebende Dinge Handlungsfähigkeit haben. Dies führt uns zu der Frage, was Leben ist. Es mag verschiedene Definitionen von Leben geben, aber es gibt auf jeden Fall einige Beweise dafür, dass es nicht-lebende Materie gibt, die eine Handlungsfähigkeit hat, die der von Lebewesen ähnelt. Nehmen wir als Beispiel das Verständnis der Entwicklung von Mineralien. Wissenschaftler wie Robert Hazan vertreten die These einer Ko-Evolution von Mineralien und Leben. Simpel veranschaulicht, lässt sich das schon an der Tatsache ablesen, dass wir tagtäglich Mineralien in unseren Stoffwechsel aufnehmen und dass die Menschheit andererseits die geologische Situation dramatisch verändert hat. Wenn wir Mineralien zu uns nehmen, nehmen wir lebende Organismen aus der Vergangenheit zu uns, und die heute lebenden Organismen werden zur Entstehung von Mineralien in der Zukunft beitragen.

taz: Man vermutet, dass die Mineralsalze, die Sie verwenden, auch für den Ursprung des Lebens eine Rolle spielten.

Kurant: Ein interessantes Paradox: Die Mineralien, an denen wir, mithilfe praktisch versklavter Arbeiter:innen, gegenwärtig Raubbau betreiben, um die Computer zu füttern, sind dieselben Mineralien, die durch ihre Mischung auf dem Meeresboden das Leben auf der Erde ermöglicht haben. Zumindest soweit wir das heute wissen. Es gibt also einen gewissen Looping-Effekt, dessen Bedeutung wir nicht ermessen können.

taz: Sie arbeiten einerseits mit Algorithmen, mit Daten aus der digitalen Welt, die konkret die Form einiger Kunstwerke bestimmen …

Kurant: Es gab einen deutschen Ingenieur, der für meine Arbeit sehr wichtig ist, Konrad Zuse. Im Technischen Museum Berlin ist seinem Werk ein ganzer Raum gewidmet. Er war ein Computer- sowie Programmiersprachen-Pionier und der Erste, der die Theorie aufstellte, dass das Universum ein riesiger Informationsprozessor sei. 1969 schrieb er das erstaunliche Buch „Rechnender Raum“. Er sagt, dass der gesamte Kosmos als zellulärer Automat beschrieben werden könnte, was bedeutet, dass alles – Pilze, Bakterien, Wale, Wälder, Mineralien, Planeten, Galaxien, Städte, Nationen ­– Informationen speichert und verarbeitet. Die Welt kann also als riesiger Computer betrachtet werden.

taz: Bei anderen Ihrer Arbeiten wie „Risk Management“, einer Landkarte irrationaler Massenphänomene, sticht gerade Ihre Faszination am Unberechenbaren hervor.

Foto: Janek ZamoyskiKurant

Agnieszka Kurant, geboren 1978 in Łódź, lebt in New York. Ihre Soloausstellung „Risk Landscape“ läuft bis 5. Januar 2025 im Mudam Luxemburg, bis 20. Januar 2025 stellt sie in der „Arte Povera“-Schau in der Bourse de Commerce Paris aus. Kurants Monografie „Collective Intelligence“ erschien 2024 bei Sternberg Press.

Kurant: Es gibt immer Formen kollektiver Intelligenz, die auf nicht berechenbare Weise entstehen und sich verhalten. Obwohl alles auf der Erde Information verwertet, ist nicht alle Information berechenbar. Ich weiß nicht, ob das gut oder schlecht ist. Sicher aber ist: Es gibt etwas, das über eine rein rechnerische Evolution hinausgeht. Es gibt viele komplexe Phänomene auf der Welt. Wir wissen nicht einmal, wie Wahlen in der Politik ausgehen. Das ist zum Teil abhängig von irrationalen Faktoren, an welchem Wochentag sie stattfinden etwa oder wie das Wetter sein wird.

taz: Dazu fällt mir Ihr neues Werk „Lottocracy“ ein. Es ist ein Kugelziehgerät, das uns auch die Nichtvorhersagbarheit der Dinge vor Augen führt. Aber der Name ist der politischen Ökonomie entlehnt?

Kurant: Richtig, die Lottokratie als Ersatz für das Wahlsystem, wie wir es heute kennen, ist ein radikal neuer Gedanke. Die Wahl politischer Vertreter wird dabei durch Wahlen per Los ersetzt. Diese Maßnahme geht von dem Erfahrungswert aus, dass man in den meisten Teilen der Welt einigermaßen wohlhabend sein muss, um Mitglied einer politischen Partei zu sein. Es gibt kaum Mitglieder, die aus der Arbeiterklasse stammen. Deshalb schlagen einige radikale Po­li­to­lo­g:in­nen jetzt Wahlen per Los vor. Es würde sich dabei nicht um ein willkürliches Verfahren handeln. Wählbarer Kandidat wäre, wer sich in irgendeiner Weise in lokalen Ämtern oder beispielsweise in der Nachbarschaftsorganisation verdient gemacht hat.

taz: Was bedeutet die Anerkennung einer kollektiven Intelligenz für Sie auf ökonomischer Ebene, steht beispielsweise Ihnen allein der Gewinn aus Ihrer Arbeit zu?

Kurant: Künstliche Intelligenz ist das Ergebnis der Ausbeutung der kollektiven menschlichen Intelligenz, da Algorithmen auf den digitalen Fußabdrücken von Millionen von Internetnutzern trainiert werden. Unsere Daten wurden inzwischen zu einem kostbareren Rohstoff als Öl und Gas. Einige meiner Werke sind Vehikel, mittels derer das Geld des Kunstmarkts abgezweigt und umverteilt werden kann, zum Beispiel unter globalen digitalen Arbeiter:innen, die oft für sogenannte microtasks ausgebeutet werden.

„Die Welt jenseits der Menschen kennt keine Ethik“

taz: Wenn der Mensch aus einer Vielzahl von Intelligenzen besteht, sind wir dann überhaupt verantwortlich für unsere Taten?

Kurant: Ethik ist eine zentrale Frage in diesem Abenteuer, das ich plurale Subjektivität oder auch kollektive Intelligenz nenne. Ein Beispiel: Einige der Wissenschaftler, mit denen ich zusammenarbeite, waren mit der Frage beschäftigt, gentechnisch veränderte Mücken in Ökosysteme einzuführen, die unfruchtbar sind. Damit sollte die Übertragung von Malaria oder Denguefieber gestoppt werden. Das ist dann tatsächlich passiert, die Mücke wurde erfolgreich eingeführt. Aber wenn Sie mit einem wirklich versierten Wissenschaftler sprechen, wird er zugeben, dass völlig unklar ist, welche langfristigen globalen Konsequenzen die Veränderung dieser einen winzigen Situation haben wird. Hier könnten wir einer Art Schmetterlingseffekt, wie ihn die Chaostheorie formuliert hat, ausgeliefert sein.

taz: Wäre es nicht angebrachter, von „kollektiver Dummheit“ als von „kollektiver Intelligenz“ zu sprechen?

Kurant: Die Welt jenseits der Menschen kennt keine Ethik. Tiere töten sich gegenseitig, es gibt kein moralisches Dilemma. Ethik ist das Ergebnis einer evolutionären Entwicklung, die für die Organisation der menschlichen Gesellschaft notwendig war. Wichtig ist auch, dass es ein Instrument der Zivilgesellschaft ist. Unverändert ist es so, dass Ethik aus Überlebensper­spektive absolut notwendig ist, wenn wir uns nicht selbst ausrotten wollen.

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