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Chaotische Kommunikation

Telefonkette der Mi­nis­te­r:innen nach Solinger Anschlag gibt Rätsel auf

Aus Düsseldorf Andreas Wyputta

Nordrhein-Westfalens grüne Familien- und Integrationsministerin, Josefine Paul, hat sich gegen Vorwürfe der Landtagsopposition aus SPD und FDP verteidigt, die Öffentlichkeit über den tödlichen Anschlag in Solingen nur zeitversetzt informiert und im Landesparlament womöglich die Unwahrheit gesagt zu haben. Sie habe „zunächst keine Zuständigkeit“ ihres Hauses gesehen, sagte Paul am Mittwochnachmittag vor dem Integrationsausschuss des Landtags. Bis heute habe ihr Ministerium keine sogenannte WE-Meldung, also eine Eilmeldung „wichtiger Ereignisse“, vonseiten der Polizei erhalten.

In Solingen soll der aus Syrien stammende Tatverdächtige Issa al H. am 23. August 2024, einem Freitag, bei einem Stadtfest wahllos mit einem Messer auf Be­su­che­r:in­nen eingestochen haben. Drei Menschen wurden getötet, acht weitere verletzt. Für Unverständnis hatte besonders der gescheiterte Versuch gesorgt, den mutmaßlichen Täter bereits im Juni 2023 abzuschieben. Da Issa al H. über Bulgarien einreiste, war es gemäß der Dublin-Verordnung eigentlich für seinen Asylantrag zuständig.

Bulgarien hatte der Überstellung aus Deutschland am 20. Februar 2023 auch zugestimmt – doch die Abschiebung scheiterte, da der Syrer am 5. Juni 2023 nicht in seiner Unterkunft aufgegriffen werden konnte. Weitere Versuche habe es nicht gegeben, da keine Abschiebeflüge verfügbar gewesen seien, hatte die zuständige Integrationsministerin Paul im Landtag erklärt. Am 20. August 2023 lief dann die sechsmonatige „Überstellungsfrist“ nach Bulgarien ab – damit war die Bundesrepublik für Issa al H. verantwortlich.

Bei den aktuellen Vorwürfen geht es vor allem um die Frage, wann Paul von dem gescheiterten Abschiebeversuch erfahren hat und von wem sie informiert wurde. Klar scheint bisher, dass die Krisenkommunikation zwischen dem für die Polizei und damit für die Festnahme des mutmaßlichen Täters zuständigen Innenministerium und Pauls Haus wenig professionell ablief.

CDU-Innenminister Herbert Reul hatte im Landtag zunächst den Eindruck erweckt, er habe erst am Sonntag, dem 25. August, begriffen, dass die gescheiterte Abschiebung massive politische Relevanz habe. Danach habe er versucht, seine Kabinettskollegin Paul, die auf einer Dienstreise war, telefonisch zu erreichen. Ein Telefonat sei aber nicht zustande gekommen. Laut einer internen Chronologie, die der taz wie weiteren Medien vorliegt, wurde Reul aber bereits am Samstagabend um 18.48 Uhr vom Inspekteur der Polizei im NRW-Innenministerium, Michael Schemke, auf die gescheiterte Abschiebung hingewiesen. Gegenüber dem Spiegel hat Reul auch eingeräumt, dass Schemke ihm empfohlen habe, Paul zu informieren.

Paul räumte am Mittwoch ein, dass Mit­ar­bei­te­r:in­nen ihres Hauses schon am Samstag vom Landeskriminalamt um Hilfe bei der Beschaffung der Asylakte des Tatverdächtigen gebeten wurden – auch das Integrationsministerium hätte also alarmiert sein müssen. Die Öffentlichkeit erfuhr von dem gescheiterten Abschiebeversuch erst durch Medienberichte am Sonntag. Detailliert aufgeklärt werden sollen alle Hintergründe des Solinger Terroranschlags durch einen Landtags-Untersuchungsausschuss, der im November formell eingesetzt werden soll.

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