: Gegen die Wand gefahren
Seit sechs Jahren ist Rot-Grün kapitalistischer als irgendjemand sonst. Dann haute Müntefering auf den Kapitalismus. Jetzt will Schröder Neuwahlen und mit der Wirtschaftspolitik in den Wahlkampf ziehen, mit der er gescheitert ist. Ein Blick zurück im Zorn
VON BETTINA RÖHL
Sechs Jahre rot-grüne Realpolitik haben die von der Regierung Kohl übernommene Kapitalverteilung in der Gesellschaft in die Richtung entwickelt: oben mehr Creme de la Creme und unten viel plörrige Molke. Die Schere zwischen den Kapitalhabenden und den Kapitallosen hat sich unter Rot-Grün in nur sechs Jahren entgegen allen erklärten Ansprüchen weiter geöffnet, und dies dynamisch fortschreitend. Wie wir hinreichend vom roten Medienkanzler und vom grünen Medienvizekanzler gehört haben, sei das alles so, weil die Welt so sei – die berühmten Sachzwänge des Regierens – über die Jung-Schröder und Jung-Fischer einst lachten und schimpften und die sie mit Revolution bekämpft hatten. Man fragt sich, warum die früheren Trakteure der Bundesrepublik nun seit 1998 Regierung machen, wenn sie weder andere noch bessere Rezepte haben und nun ganz im Gegensatz zu Münteferings Schrei und zu ihren eigenen Phrasen aus der 68er-Epoche das Kapital in Wahrheit seit Jahren kräftig fördern und die Arbeit kaltschnäuzig entwerten und vor allem entmachten.
Es gab keine Regierung vor Rot-Grün, die einen so scharfen Klimawechsel zugunsten von Kapital und Unternehmen in der Gesellschaft bewirkt hat und dies ohne, dass man als Bürger das Vertrauen entwickeln konnte, dass die Regierung überhaupt wusste, was sie tut und was die Konsequenzen sind. Ein bisschen schien es, als wenn sie seit 1998 aus ihrer alten Wirtschaftsfeindlichkeit heraus ins Gegenteil umgefallen ist, auch um sich selbst und den von ihnen heimlich bewunderten Kapitalisten Regierungsfähigkeit zu beweisen. Man könnte geneigt sein zu spekulieren, dass die Diskrepanz zwischen dem linken Reden und dem neokonservativen Tun von Rot-Grün daran liegt, dass Kanzler und Vizekanzler persönlich zu den Neureichen gehören.
Die feinen Freunde
Zeig mir deine Freunde und ich sag dir, wer du bist! Einer von Schröders zahlreichen Kapitalistenfreunden ist Wendelin Wiedeking, beliebt bei Kapitalisten sowie bei den so genannten Linken. Der Porsche-Chef baut überteuerte Autos mit geringem Nutzwert, und dies für Menschen, die im Müntefering’schen Sinn überkapitalisiert sind. Damit verdient der Top-Angestellte der kleinsten deutschen Autofirma persönlich schätzweise 15 Millionen Euro plus plus plus im Jahr. Das macht bei 20 Arbeitsjahren auf diesem Einkommensniveau zuzüglich Gehaltserhöhungen und Zinsen und Sonderaktien und Einkünften aus eigenen Kapitalgeschäften irgendetwas um eine halbe Milliarde Euro. Einmal unterstellt, Schröder und Fischer selber verdienten alles in allem 500.000 Euro im Jahr, könnte sich Wiedeking in jedem Falle ein Dutzend solcher rot-grüner Gespanne als persönliche Mitarbeiter leisten.
Solche Freundschaften sind sicher einerseits anregend, aber vielleicht haben sie auch zur Desorientierung Schröders beigetragen und die Relation vernebelt. Der Tausendsassa und Wunderknabe Wiedeking hat es voll drauf. Kürzlich umarmte er öffentlich auch Münte und warf sich für dessen Kapitalismuskritik ins Zeug. Gleichzeitig schimpfte er auf seinen Kollegen von der deutschen Bank, Josef Ackermann, der allerdings bei größerer wirtschaftlicher Verantwortung mit einem geringeren Salär nach Hause geht.
Auch aus dieser Vernebelung heraus mag der Eifer der amtierenden Rot-Grünen entstanden sein, die Progression der Einkommensteuer zugunsten der Reichen und damit zwingend zu Lasten der breiten Masse zu drücken, in dem der Spitzensteuersatz unter Rot-Grün von 53 Prozent auf 42 Prozent gesenkt wurde. Jemand, der z. B. 15 Millionen Euro Jahreseinkommen versteuert – einmal alle illegalen Steuerhinterziehungen und legalen Steuervermeidungen außer Acht gelassen –, hatte unter der Regierung Kohl rund 8 Millionen Euro Steuerlast und hat unter der Regierung Schröder/Fischer nur noch eine Steuerlast von 6,3 Millionen Euro, also 1,7 Millionen Euro netto mehr in seiner Hosentasche. Dieses Steuergeschenk geht 95 Prozent der Bevölkerung nichts an. Die Superreichen, so das Kalkül von Rot-Grün, sollen mit diesem Steuergeschenk nicht nur angehalten werden, fleißiger und kreativer zu sein, sondern auch neue Arbeitsplätze zu schaffen.
Wie viele Euros noch?
Wie viele Euros braucht ein Wiedeking noch, um alles aus sich herauszuholen, was in ihm steckt? Wie viel bräuchten Schröder und Fischer, um ihre Bestleistung zu bringen? Ebenfalls aus diesem Nebel heraus wollen Schröder und Fischer die Erbschaftsteuer auf Unternehmen erheblich absenken und jetzt auch noch die Körperschaftsteuer in Deutschland, also die Einkommensteuer der Kapitalgesellschaften von 25 Prozent auf 19 Prozent drücken. Dies, damit deutsche Firmen keine Lust bekommen, ihr Headquarter, also im Wesentlichen Chef samt Sekretärin, fiktiv nach Bratislava, auf die holländischen Antillen oder auch in arme US-Staaten zu verlagern oder gleich die ganze Firma ins Ausland umzusiedeln. Umgekehrt sollen so die berühmten, ausländischen Investoren nach Deutschland gelockt werden. Unter diesen befänden sich allerdings häufig die berühmten „Heuschrecken“, die Müntefering jetzt als ideologischer Kammerjäger vertrieben wissen wollte.
Rot-Grün muss daran erinnert werden, dass es die Rot-Grünen waren, die den ausländischen Investoren eine Spezialeinladung geschickt haben, indem zum Beispiel der Handel mit Unternehmensbeteiligungen hierzulande steuerfrei gestellt wurde. War ein solcher Gigant-Heuschreck die britische Firma Vodafone, die die möglicherweise ertragsgeneigtere Mannesmann-D2-Mobilfunk-AG im Wege einer so genannten Fusion Anfang 2000 unfreundlich konsumierte und dem ehemaligen Mannesmann-Chef Klaus Esser die 60 Millionen DM Prämien und Abfindung zur Abfederung der Folgen seines Arbeitsplatzverlustes bescherte? Hat die Bundesregierung damals geschlafen? Hat die Regierung den Ausverkauf der deutschen Börse ebenfalls bereits verschusselt?
Natürlich hat Müntefering, was die Managergehälter betrifft, mit seinem Grundunwohlbehagen Recht. Die Einkommens-Multimillionäre aus der Kaste der Kapitalfunktionäre schaden zum Teil weniger wegen der absoluten Summen, die sie aus den Unternehmen herausholen – sich gegenseitig die Posten und Millionen zuschusternd –, als vielmehr mit der sozialen Schieflage, die sie in die Gesellschaft geistig-politisch hineintragen. Ihre faktische Message: Es kommt nicht auf den betriebs-oder volkswirtschaftlichen Nutzen an, den jemand bringt. Wer arbeitet und nicht spekuliert, ist quasi der Dumme und hat im Kapitalismus schon verloren. Gilt das Preis-Leistungs-Verhältnis nur bei Karstadt, Aldi, den Spargelstechern oder gerade noch beim Mittelstand, aber bei den Kapitalrittern nicht mehr?
Die Vergessenen
Ist nicht ein solider Aufbauer besser als der Typus Brutal-Sanierer oder ein It-Manager (von It-Girl)? Einkommen gründet sich legitimerweise auf Arbeit und Risiko. Die Top-Manager arbeiten, aber das Risiko tragen die Aktionäre, insofern stimmt da tatsächlich etwas nicht.
Müntefering sagte: Deutschland nicht ökonomisieren, nicht wie ein Unternehmen behandeln – wer weiß schon, was das genau heißen soll. Er sagt dies als jemand, dessen Partei gerade Hartz IV durchgesetzt hat. Rot-Grün hatte das Hartz-Konzept im Sommer 2002 auf die Bundestagswahl hin als neue Wunderwaffe präsentiert. Der VW-Manager Peter Hartz hatte die Republik aber leider gerade nicht als einen lebendigen Staat betrachtet mit Babys und sterbenden Greisen, mit Jung und Alt, Intelligent und Dumm, Fleißig und Faul. Er sah alles wie in einer VW-Werkshalle, in der Menschen ausschließlich arbeitsvertraglich gebundene Mitarbeiter sind, die durch die Geschwindigkeit des Produktionsbandes und des bei VW mächtigen Betriebsrates sowohl individuell als auch strukturell fest im Griff des Arbeitgebers schaffen. Hartz IV nimmt den Menschen, auf den die SPD jetzt wieder abstellt, gerade nicht mit. Unter Rot-Grün entstand ein vergessener Teil der Gesellschaft, das erste Mal in 56 Jahren Bundesrepublik.
Die letzte Überzeugungskraft des jüngsten Anti-Kapital-Vorstoßes des SPD-Chefs fehlte jedoch. Damit sich etwas ändert, müsste es intellektuell mehr sein. Wenn die Feinstäube über den Stammtischen weggeweht sind, wird gesteigerter Frust und nicht Arbeitsplatz übrig bleiben. Wirtschaftsaufschwung und Schaffung von Arbeitsplätzen wird am wenigsten mit den geforderten Gesetzen gelingen, für deren Schaffung die Bundesrepublik viel zu viele Kompetenzen bereits nach Europa gegeben hat. Isolationismus gegen den Weltmarkt ist faktisch eine absolute Unmöglichkeit. Insofern ist da viel heiße Luft, auch von schnellen Trittbrettfahrern, die Müntefering inzwischen teilweise wieder in den Rücken gefallen sind, produziert worden. Zwar: die Kapitalismusdebatte hat bewirkt, dass mehr Menschen die Begriffe Hedgefonds und Private Equity schon einmal kennen gelernt haben und eine Ahnung davon bekommen, welche fernen Kapitalkonglomerate die Wirtschaft hierzulande regieren. Indes: Die Wähler in NRW haben der SPD weder Wirtschaftskompetenz noch die gute alte sozialdemokratische Gesinnung abgenommen. Insofern ist es an diesem Punkt nur konsequent, dass Schröder sich und seine Partei zur Disposition stellt.
Die Grünen sind längst verschickifiziert und lenken ab: keine Kapitalismusdebatte, sondern, bitte schön, Wertedebatte. Dies sagen sie wohl wissend, dass Verteilungsgerechtigkeit zurzeit der Wert ist, der den Menschen am meisten bedeutet. Motivation ist zurzeit schließlich die wichtigste Größe für effiziente Gestaltung und Aufschwung. Die Grünen ergehen sich wie in alten Luxuszeiten in hybrider, moralischer Selbstüberschätzung seit sechs Jahren in Minderheiten- und Nischenthemen, und das auch noch mit elitärem Gehabe. Die Arbeitslosen sind nicht ihre Minderheit, die Ostdeutschen interessieren sie nicht, und die Mehrheit haben sie gänzlich aus den Augen verloren. Die Grünen haben sich bei aller Wendigkeit, permanent neue Themen zu kreieren, die keine sind, intellektuell und politisch erschöpft. Kein Wunder, dass sie in NRW proportional fast den gleichen Verlust eingefahren haben wie die SPD.
Das soziale Korrektiv
Wenn Schröders Befreiungsschlag einer vorgezogenen Neuwahl unwahrscheinlicherweise Rot-Grün als Nachfolgerin von Rot-Grün bestätigten sollte, wäre die Chance vertan, dass sich Rot und Grün ideell und personell in der Opposition regenerieren. Im Übrigen sind die geborenen Gegen-Parteien Rot und Grün in der Opposition faktisch das stärkere, soziale Korrektiv. Schwarz-Gelb scheint fast unabhängig vom handwerklichen Können die Konstellation zu sein, die das Klima in der nachhinkenden deutschen Wirtschaft wieder hebt.