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Archiv-Artikel

Bitter und süß

1990ER Olivenöl, Parmigiano und Tiramisu sollen das Dolce Vita in die deutschen Küchen tragen. Teil 6 unserer Serie

Essensrepublik Deutschland – Teil 6: Die neunziger Jahre

■ Die Serie: Mangel, Wirtschaftswunder, Globalisierung. Oder anders: Beefsteak ohne Beef, Sahnetorte, Toast Hawaii. Mit einem Blick auf die Teller des letzten Jahrhunderts hat die sonntaz in den vergangenen Wochen versucht, die Gesellschaft und ihre Entwicklung zu erklären. Genauer: mit einem Blick auf jenes Gericht, das im jeweiligen Jahrzehnt besonders gern und viel gegessen wurde. Wie spiegeln Küchentöpfe die Zeit, in der man lebte? Was verraten sie über politische und wirtschaftliche Situationen von damals? Diesmal: die neunziger Jahre. Deutschland hat Italien längst als Lieblingsreiseland entdeckt. Jetzt versucht sich die Republik am Mediterransein und liebt kein anderes Dessert mehr als Tiramisu. Am 21. April, Teil 7: die nuller Jahre. Man mag es nun leicht, asketisch und reduziert. Ganz vorne: Sushi.

■ Das Jahrzehnt: Wiedervereinigung, Golfkrieg, Balkankrieg, Ruanda, Nelson Mandela, runder Tisch, Gauck-Behörde, Hoyerswerda, Rot-Grün, Berlin, Clinton, Milosevic, Schröder, Joschka Fischer, Digitalisierung, MTV, New Economy, Bill Gates, Internet, „Smells Like Teen Spirit“, Kurt Cobain, Grunge, Techno, Loveparade, Ecstasy, David Lynch, „Pulp Fiction“.

VON TILL EHRLICH

In den Neunzigern schlägt in kulinarischer Hinsicht die Stunde des verfeinert Mediterranen, wobei die Produkte ländliche Natürlichkeit und Ursprünglichkeit suggerieren: frische Artischocken, Rosmarinzweige und Basilikumblätter, naturtrübes Olivenöl, Pinienkerne, Rucola oder getrocknete Tomaten. Eine Invasion italienischer Produkte, die in Deutschland willkommen ist.

Damit verbindet sich das Klischee von Dolce Vita, von mediterraner Wärme und dem guten Leben auf dem Lande. Die Realität sieht anders aus: Das Gros der in Deutschland vermarkteten italienischen Agrarprodukte kommt nicht vom toskanischen Bauernhof, sondern vom Band der norditalienischen Foodindustrie. Die setzt weitgehend auf Massentierhaltung, Massenproduktion und billig importierte Rohstoffe. Die Mehrheit der deutschen Konsumenten will davon nichts wissen. Zu verführerisch sind die Bella-Italia-Mythen. Es ist auch eine Form von Eskapismus: Die unübersichtlich gewordene Realität im wiedervereinigten Deutschland und der Krieg auf dem Balkan lassen sich so etwas versüßen und verdrängen. Wenn es stimmt, dass in Krisenzeiten die Vergnügungsbranche Hochkonjunktur hat, muss man die italienischen Genusswellen der neunziger Jahre dazuzählen.

Man emanzipiert sich kulinarisch von Frankreich. Neben dem Italiener um die Ecke, dem noch die Armut und der Schweiß der proletarischen sogenannten Gastarbeiterküche in den Knochen stecken, entstehen zeitgeistige „Edelitaliener“: Locations, die weitgehend vom Bella-Italia-Kitsch befreit sind. Das Servicepersonal wirkt cool und studentisch. Gekocht wird mit qualitativ besseren Zutaten, die importiert werden. Dorade, Balsamico, Olivenöl, Prosciutto di Parma, Pinienkerne, Parmigiano Reggiano, Ricotta, Mozzarella di Bufala, Mascarpone. Die Portionen sind klein, formal reduziert und klar aufgebaut, scheinen von Schnörkelei und Überladenheit befreit zu sein. Neu ist, dass man sich auf wenige Aromen innerhalb einer Speise konzentriert. Der ganze Genuss scheint lustvoller und weniger anstrengend zu sein als bei der französischen Küche.

Doch was in Deutschland in den Neunzigern als echte italienische Küche verkauft wird, ist vom Original sehr weit entfernt. Anders, als es das Klischee suggeriert, gibt es eine typisch italienische Küche gar nicht, sondern eine Vielfalt regionaler Küchen, wie der cucina povera. In Deutschland wird die weichgespülte Variante als kleinster gemeinsamer Nenner geboten, werden überwiegend Gerichte populär, die ohne jene Ecken und Kanten sind. So sind von den unzähligen italienischen Risottovariationen in Deutschland nur die harmlosesten populär, jene mit Grana Padano, Pilzen oder Trüffelöl.

Das Dessert der Neunziger ist Tiramisu. Eine norditalienische Mascarponecreme, die alles enthält, was müde macht: Fett und Zucker bis zur Bewusstlosigkeit – plus Alkohol und in kaltem Espresso aufgeweichten Biskuit. Kehrt hier die Buttercremetorte der Fünfziger im italienischen Gewand zurück? Regressiv ist auch die weiche, bisslose Konsistenz. Das sind alles Merkmale von Fastfood. Wie Pizza zeigt Tiramisu, wohin die Bella-Italia-Reise geht: zu globalisierten, standardisierten Foodmarken, weltweit erkennbar und verfügbar. In seriösen, aktuellen italienischen Kochbüchern wie dem von Marcella Hazan kommt Tiramisu nicht vor. Und Giorgio Locatelli beklagt in seinem wunderbaren Werk „Made in Italy“, dass es viel zu schwer sei, und fragt, was daran eigentlich echt italienisch sein soll. Der kalte Kaffee?

Tiramisu

■ Zutaten: 4 Eigelb 75 Gramm Zucker 500 Gramm Mascarpone Kalter Espresso 4 cl Marsala 200 Gramm Löffelbiskuits Dunkles, bitteres Kakaopulver

■ Rezept: Eigelb mit Zucker schaumig schlagen. Löffelweise Mascarpone zugeben. Espresso mit Marsala mischen. Die Hälfte der Biskuits darin kurz eintauchen und damit den Boden einer Form auslegen. Die Hälfte der Creme darüber verteilen. Restliche Biskuits kurz in den Espresso-Marsala tauchen, in der Form verteilen und mit restlicher Creme bedecken, glätten. Einige Stunden abgedeckt kalt stellen. Vor dem Servieren mit Kakaopulver bestäuben.

Auch der Balsamico-Essig breitete sich in den Neunzigern epidemisch aus. Er hat nichts mit dem originalen Balsam zu tun, dem herkunftsgeschützten „Aceto Balsamico Tradizionale di Modena“. Vielmehr sind es billigste, mit Zuckercouleur gefärbte, industrielle Zucker-Essig-Mixturen, deren banale süßsaure Note dem Geschmack einer differenzierten Speise eher abträglich ist. Aus dem kampanischen Caprese, jener sommerlichen Art, Büffelmozzarella mit sonnenreifen Tomaten, frischen Basilikumblättern und kalt gepresstem Olivenöl zu einer Vorspeise zu verbinden, wird etwas ganz und gar Deutsches: Tomaten mit Mozarella – dank wässrigen, unreifen Hollandtomaten ganzjährig verfügbar. In den Neunzigern wird das als leichte Alltagskost in Deutschland etabliert. Mit dem italienischen Original, das es nur gibt, wenn die Freilandtomaten in der Region Saison haben, hat das alles überhaupt nichts mehr zu tun.

Bei Feinschmeckern sind Nudelmaschinen gefragt. Denn selbst gemachte Pasta ist, wie Spätzle, eine andere Kategorie als das industrielle Fertigprodukt. Zugleich treibt in den Edelrestaurants eine seltsame Mode ihre Blüten: frisch gehobelte weiße Trüffel. Sie entfalten über heißer Pasta oder Risotto ein sehr eigenwilliges, strenges Aroma, das Sexualhormon Androstol, das aber leider keinen Einfluss auf die menschliche Potenz hat. Trotzdem, echte weiße Trüffel sind eine Kostbarkeit. Es gibt nur wenige davon, und die guten Qualitäten sind eigentlich zu teuer für die aufstiegsbewusste Mittelschicht.

Trüffelspeisen sind Relikte der feudalen Küche. Sie gehören in patriarchale Welten, wie sie in filmischen Epen wie Viscontis „Der Leopard“, Bertoluccis „1900“ oder Coppolas „Paten“-Trilogie zu besichtigen sind. Aristokraten, Kardinäle, Mafiosi bekamen Trüffel als Inbegriff von Kostbarkeit wie Juwelen als Gaben von ihren Untertanen gebracht, sie haben dafür nie Geld ausgegeben wie der genussfleißige Zahnarzt aus Schwabing. Weil man aber unbedingt das Gehabe kulinarisch imitieren will, kommt in den 90ern industrielles Trüffelöl aus Italien auf, das über Pasta, Risotto und Gemüse gegossen wird. Ein Fake. Der „gute italienische Geschmack“ ist längst verloren gegangen.