Schwierige Suche nach Mehrheiten

Nur das BSW und die AfD können bei den Wahlen in Sachsen und Thüringen als Wahlgewinner gelten. Das liegt nicht nur an der Ampelregierung

Nach dem Ergebnis mussten nicht nur sie schlucken: Mario Voigt (CDU, l.), Björn Höcke (AfD, r.) und Katja Wolf (BSW) nach der Wahl im Fernsehstudio Foto: Michael Kappeler/dpa

Aus Erfurt David Muschenich

Kurz träumte Thüringen am Wahlabend von einer Mehrheitskoalition. In den ersten Hochrechnungen am Sonntagabend schienen CDU, SPD und BSW eine Mehrheit zu haben. Doch im Laufe des Abends sanken die Balken der Parteien, und die Hoffnung schwand: Es fehlt doch ein Sitz zur Mehrheit im Landtag. Nun befindet sich die CDU in Thüringen vor einem Dilemma. Die AfD ist mit mehr als 30 Prozent stärkste Kraft im Land, und sollte doch noch eine Mehrheitsregierung in Thüringen zustande kommen, dann offenbar nur unter der Beteiligung der Linken. Das schließt die CDU aus. Für deren Landesvorsitzenden Mario Voigt stehen jetzt schwere Zeiten an.

Ganz anders sieht es in Sachsen bei Ministerpräsident Michael Kretschmer und seiner CDU aus: Sie bekamen mit 31,9 Prozent den höchsten Stimmanteil und Kretschmer verteidigte sein Direktmandat in Görlitz. Laut dem vorläufigen Endergebnis kann die CDU mit dem BSW und der SPD rechnerisch weitere fünf Jahre die Regierung anführen. Ganz ohne die Grünen, so wie sich Kretschmer das gewünscht hat.

Doch einfach wird das Regieren auch in Sachsen nicht. Denn die CDU muss eine Koalition mit dem BSW eingehen, wenn Michael Kretschmer sein Wahlversprechen halten und eine AfD-Regierung verhindern möchte. Diesen Umstand wird das BSW in den Gesprächen zu nutzen wissen.

Zum anderen hat die AfD nach der Korrektur des Ergebnisses mit nun 40 von 120 Sitzen zwar keine Sperrminorität wie in Thüringen gewonnen, wird als stärkste Oppositionspartei aber weiterhin lautstark die Regierung angehen. In Thüringen verfügt die rechtsextreme Partei hingegen über eine Sperrminorität und kann zum Beispiel die Auflösung des Parlaments oder Verfassungsänderungen blockieren.

Eine Regierungsbeteiligung der AfD lehnt eine Mehrheit sowohl in Sachsen (56 Prozent) als auch in Thüringen (57 Prozent) ab. Und trotzdem gewinnt die rechtsextreme Partei für ihre Positionen auch bei anderen Wäh­le­r:in­nen Zuspruch: Parteiübergreifend gaben 59 Prozent bei Infratest dimap an, sie fänden gut, dass die AfD „den Zuzug von Ausländern begrenzen will“.

Im Vergleich mit der sächsischen CDU sprachen mehr Menschen der AfD Kompetenz in der Asyl- und Flüchtlingspolitik zu. Stimmenzuwachs erhielt die AfD vor allem bei jungen Wähler:innen. In Sachsen waren es bei den 18- bis 24-Jährigen am Sonntag 31 Prozent und damit 11 Prozentpunkte mehr als noch vor fünf Jahren.

In Thüringen wuchs der Anteil sogar um 15 Prozentpunkte auf insgesamt 38 Prozent an. Dass junge Menschen die AfD wählen, sei ein Ausdruck der Normalisierung der Partei, sagt Generationenforscher Rüdiger Maas der Deutschen Presse-Agentur. Die AfD werde nicht als unmittelbar rechtsextrem wahrgenommen. Viele junge Menschen schätzten sich selbst als politisch mittig ein, wählten dann aber AfD, so Maas, der kürzlich eine Studie zu dem Thema veröffentlicht hat. Die klassische Aufteilung in links und rechts verliere für junge Menschen an Bedeutung, sagte er weiter. Es gebe unter jungen Leuten auch eine hohe Toleranz gegenüber AfD-Wählenden im Freundeskreis.

In den meisten anderen Altersgruppen ist die Zustimmung ähnlich hoch – nur bei den Wäh­le­r:in­nen ab 70 Jahren waren es in Thüringen deutlich weniger. Besonders stark ist die AfD bei Männern, Ar­bei­te­r:in­nen und Menschen in schlechter finanzieller Lage. Bei der letzten Gruppe hat sie sogar die Hälfte der Stimmen. Dass AfD und BSW in beiden Bundesländern so gut abschneiden konnten, hat verschiedene Gründe. Einer ist, dass die Regierungssituationen schon in der vergangenen Legislatur schwierig waren. Die Thüringer Minderheitsregierung von Linken, SPD und Bündnisgrünen unter Deutschlands einzigem linken Ministerpräsidenten Bodo Ramelow brauchte in den vergangenen fünf Jahren für jedes Projekt Stimmen der Opposition.

Soziale Sicherheit, Kriminalität und Zuwanderung sind die drei wichtigsten Themen

Das führte zu vielen Kompromissen und zu wenig Zufriedenheit bei den Abgeordneten der drei Regierungsparteien. Zudem stimmten CDU, FDP und AfD mehrfach gemeinsam gegen die Regierung und setzten so Gesetze durch.

In Sachsen regierten zum ersten Mal CDU, SPD und Grüne miteinander. Von Anfang an galt vor allem die Zusammenarbeit zwischen CDU und Bündnisgrünen in Sachsen als Zweckbündnis. Spätestens seitdem die Grünen auch in der Bundesregierung vertreten sind, wurden die Uneinigkeiten zwischen den Parteien zunehmend deutlich. Mehrere Versprechen aus dem Koa­litions­vertrag scheiterten.

Für SPD, Grüne und FDP in Thüringen und Sachsen erschwerte zudem den Wahlkampf, dass viele in Sachsen und Thüringen unzufrieden mit der Bundesregierung sind. Der Aussage „Olaf Scholz ist ein guter Bundeskanzler“, stimmten laut einer Nachwahlbefragung des Forschungsinstituts Infratest dimap 19 Prozent in Thüringen zu. In Sachsen waren es sogar nur 17 Prozent. Da ist es fast erstaunlich, dass sich das SPD-Ergebnis dort kaum verändert hat: nur ein Minus von 0,4 Prozentpunkten.

Die schlechten Ergebnisse der Landesparteien allein darauf zurückzuführen wäre zu kurz gegriffen. Laut der Forschungsgruppe Wahlen sagte ein Drittel, dass die Politik im Bund wichtiger sei als die im Land. Dass die Zustimmung für Landes- und Bundespartei stark voneinander abweichen kann, bewiesen 2019 etwa die Grünen. Während sie bundesweit in Umfragen bei mehr als 20 Prozent lagen, bekamen sie in Sachsen und Thüringen nur einstellige Wahlergebnisse.

Ein anderes Beispiel bleibt die Thüringer Linke. Während die Bundespartei schon bei der Bundestagswahl 2021 nicht über 5 Prozent kam, wählten die Linke in Thüringen am Sonntag immer noch 13,1 Prozent. Davon träumen nicht nur andere linke Landesverbände. Trotzdem hat niemand sonst an diesem Sonntag verglichen mit 2019 einen höheren Stimmanteil verloren: 17,9 Prozentpunkte weniger bekam der Landesverband von Ministerpräsident Bodo Ramelow – obwohl, oder besser, weil der in Umfragen der beliebteste Spitzenkandidat war.

Den zweitgrößten Stimmanteil an diesem Sonntag hat die Linke in Sachsen verloren. Statt 10,4 bekam sie nur noch 4,5 Prozent – zieht aber trotzdem in den Landtag ein. Weil Juliane Nagel und Nam Duy Nguyen in Leipzig je ein Direktmandat gewinnen konnten, zieht die sogenannte Grundmandatsklausel: Hat eine Partei mindestens zwei Direktmandate, kann sie die Fünfprozenthürde umgehen. Neben der FDP in Thüringen haben es auch die Bündnisgrünen nicht in den Landtag geschafft. Laut der Forschungsgruppe Wahlen lagen die Gründe dafür vor allem „bei der jeweiligen Partei im Bund“. Allerdings spielte auch etwa das grüne Kernthema Klimakrise im Wahlkampf kaum eine Rolle.

Stattdessen waren laut Infratest dimap soziale Sicherheit, Kriminalität und Zuwanderung insgesamt die drei wichtigsten Themen bei den Wahlentscheidungen in Sachsen und Thüringen. Allerdings gibt es dabei Unterschiede zwischen den Parteien. Während für 36 Prozent der AfD-Wähler:innen die Zuwanderung das wichtigste Thema war, gaben das bei der SPD nur 9 Prozent an. Für 26 Prozent der CDU-Wähler:innen in Sachsen war hingegen keins der drei Themen das entscheidende, sondern die wirtschaftliche Entwicklung des Landes.

Unter den Wäh­le­r:in­nen des BSW in Thüringen gaben mit 23 Prozent die meisten an, soziale Sicherheit sei für sie entscheidend. Das Thema „Ukraine und Russland“ nannten hingegen nur 17 Prozent – obwohl sich die Partei vor allem damit profiliert. In Sachsen war der Anteil größer: 21 Prozent. Doch auch dort gaben mehr an, die soziale Sicherheit sei für sie entscheidend: 26 Prozent. Über alle Parteien hinweg gaben in Sachsen 7 Prozent und in Thüringen 5 Prozent an, das Thema „Ukraine und Russland“ habe bei ihrer Wahlentscheidung die größte Rolle gespielt.

Das BSW hat es nicht – wie vorher geplan – geschafft, die AfD zu dezimieren. Zwar stimmt es, dass frühere AfD-Wähler:innen zu keiner anderen Partei als dem BSW gewandert sind. Doch die Menge blieb überschaubar. Stattdessen bekam das BSW vor allem Zulauf von der Linken. Als Grund, für das BSW zu stimmen, nannten in Sachsen 70 Prozent der Wäh­le­r:in­nen: „weil ich von der Linken enttäuscht bin“. Infratest dimap und die Forschungsgruppe Wahlen schätzen beide, dass rund die Hälfte der BSW-Wähler:innen vorher bei der Linken das Kreuz gesetzt hat. In der Altersstruktur fällt auf, dass das BSW bei höheren Altersklassen besser abschneidet. In beiden Bundesländern läge das Ergebnis bei den Wäh­le­r:in­nen, die über 70 Jahre alt sind, 3 Prozentpunkte über dem tatsächlichen Ergebnis.