Mario Draghi fordert Marshallplan für die EU

Laut dem früheren EZB-Chef steht es schlecht um die europäische Industrie. Am Montag präsentierte er Ideen für mehr Wettbewerbsfähigkeit. Die kommen nicht bei allen gut an

Ein lachender Mario Draghi mit Anzug und Brille übergibt der lachenden Ursula von der Leyen einen Bericht

Die Gesichter Ursula von der Leyens und Mario Draghis sind nicht ganz so düster wie der am Montag vorgestellte Bericht Foto: Yves Herman/reuters

Von Eric Bonse, Brüssel

Konjunkturflaute in Deutschland, Krise bei VW, Existenzangst bei Thyssen-Krupp: Die Hiobsbotschaften aus der Wirtschaft reißen nicht ab. Nun setzt ein prominenter Experte einen drauf: Ohne einen neuen Marshallplan könne Europa nicht mehr im Wettbewerb mit den USA und China bestehen, sagte der frühere Chef der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, am Montag in Brüssel.

„Dies ist eine existenzielle Herausforderung“, warnte der Euro-Retter aus Italien. Europa drohe ohne einen radikalen Kurswechsel eine „langsame Agonie“. Nötig seien zusätzliche Investitionen von 750 bis 800 Milliarden Euro pro Jahr, rechnete Draghi vor. Das wäre mehr als doppelt so viel Geld, wie der US-finanzierte Marshallplan nach dem Ende des 2. Weltkriegs in Richtung Europa gepumpt hat.

Um so hohe Summen aufzubringen, könne man sich nicht all-ein auf private Investoren verlassen, so Draghi. Die EU müsse über eine gemeinsame Finanzierung nachdenken – wenn möglich über neue Schulden nach dem Vorbild des Corona-Aufbaufonds. Außerdem müssten die hohen Energiepreise runter. Draghi plädiert auch für weniger EU-Bürokratie und mehr Freiheit für Konzerne und Fusionen.

Sein Bericht zur „Zukunft der europäischen Wettbewerbsfähigkeit“ liest sich wie eine Abrechnung mit der bisherigen Politik. Die EU könne sich nicht länger auf ihren Binnenmarkt und den Handel verlassen, heißt es. Durch den Wegfall der günstigen Energie aus Russland habe Europa einen Wettbewerbsnachteil erlitten. Zugleich drohe man den wichtigen Markt in China zu verlieren. Das Konzept der Wettbewerbsfähigkeit selbst stellt Draghi allerdings nicht infrage. Und am „Green Deal“, den EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen lanciert hat, äußert er nur leise Kritik: Bisher sei das versprochene Wachstum ausgeblieben. Die EU produziere zwar mehr grüne Energie – doch günstige Preise kämen nicht beim Verbraucher an.

Von der Leyen vermied es, auf diese Kritik einzugehen. Draghis Empfehlungen würden in das Arbeitsprogramm für die neue EU-Kommission eingehen, sagte sie. Mit dem „Clean Industrial Deal“, einer industriefreundlichen Variante des „Green Deal“, sei man schon auf dem richtigen Weg. Woher die Milliarden kommen sollen, die Draghi fordert, blieb jedoch offen. Deutschland hat sich bereits gegen neue Schuldenprogramme ausgesprochen. Laut den neuen Schuldenregeln, die in diesem Herbst greifen, müssen die meisten Mitgliedstaaten sparen.

Bleibt Draghis Weckruf also ungehört? „Draghis Mut darf nicht von nationalen Bedenkenträgern ausgebremst werden“, warnt der grüne EU-Abgeordnete Rasmus Andresen. „Wir brauchen moderne und klimaresiliente Infrastruktur und mehr Innovationen.“ Deshalb begrüße er den starken Fokus auf öffentliche und private Investitionen. „Es darf nicht bei Berichten bleiben, am Ende zählt die Umsetzung“, kommentiert der CSU-Europaabgeordnete Markus Ferber. „Der Patient Europa ist schwer angeschlagen.“ Aussicht auf Heilung gebe es nur, wenn die Wettbewerbsfähigkeit zur obersten Priorität wird.

Anders klingt es bei Fabio De Masi vom Bündnis Sahra Wagenknecht: Die europäische Wettbewerbsfähigkeit sei ein Auslaufmodell. Der Draghi-Plan sehe auch die Erhöhung der preislichen Wettbewerbsfähigkeit vor, was Löhne und Renten drücken könne, so De Masi. „Draghi geriert sich als vermeintlicher Retter der EU, der Europa wieder wettbewerbsfähig macht“, sagt auch Linken-Ko-Fraktionschef Martin Schirdewan. Das bedeute in seiner Logik nichts anderes als Arbeitszeitverlängerung und Lohnkürzungen.