us-wahlkampf
:

„Wir werden schlafen, wenn wir tot sind“

Tim Walz spricht erstmals auf öffentlicher Bühne als Kamala Harris’Vizekandidat. Er soll neue Wähler im hart umkämpften Mittleren Westen der USA gewinnen. Viel Zeit bleibt dafür nicht

Harris und Walz im Blitzlichtgewitter auf einer Bühne

Kamala Harris und ihr Vizekandidat Tim Walz treten erstmals gemeinsam auf. Mehr als 10.000 Menschen sind zum gemeinsamen Auftakt in Philadelphia gekommen Foto: Joe Lamberti/ap

Aus Washington Hansjürgen Mai

Das Sprichwort, dass ein Wahlkampf ein Marathon und kein Sprint sei, darf in diesem Jahr aus Sicht der US-amerikanischen Demokraten getrost vergessen werden. Für die Präsidentschaftskandidatin Kamala Harris und ihren neu ernannten Vizekandidaten Tim Walz ist es vielmehr ein langgezogener Zielsprint, für den am Dienstag der Startschuss fiel.

Vor mehr als 10.000 enthusiastischen Menschen gab das neue Spitzenduo der Demokraten in der Ostküstenmetropole Philadelphia sein Debüt. Unter tosendem Applaus betraten sie die Bühne. Der Auftritt im Swing State erfolgte nur wenige Stunden nachdem Harris die erste wegweisende Entscheidung ihres Wahlkampfs getroffen hatte.

Und glaubt man den Szenen des Abends, dann sind die meisten Anhänger mit der Entscheidung über die Wahl ihres Mitstreiters zufrieden. „Er ist die Art von Person, die den Menschen das Gefühl gibt, dazuzugehören, und sie dann dazu inspiriert, große Träume zu haben. […] Das ist die Art von Vizepräsident, die Amerika verdient hat“, sagte Harris über Walz.

Mit dem 60-Jährigen hat Harris einen Politiker mit Regierungserfahrung an ihrer Seite. Ob er wie erhofft neue Wähler im hart umkämpften Mittleren Westen der USA gewinnen kann, wird sich noch zeigen. Zeit ist allerdings etwas, das in diesem Wahlkampf Mangelware ist. „Uns bleiben 91 Tage. Mein Gott, das ist einfach. Wir werden schlafen, wenn wir tot sind“, scherzte Walz über die bevorstehende Aufgabe.

Der Gouverneur des US-Bundesstaats Minnesota zeigte sich überwältigt vom Empfang der Menschen, die die Kundgebung immer wieder mit App­laus und Jubel unterbrachen. „Danke, dass Sie die Freude zurückgebracht haben“, sagte ein strahlender Walz.

Der frühere Lehrer und Football-Coach war vor seiner Wahl zum Vizekandidaten kaum landesweit bekannt. Noch vor wenigen Tagen gaben in einer Umfrage 17 Prozent der Befragten Walz gute Noten, 13 Prozent schlechte – und 70 Prozent sagten, sie hätten keine Ahnung wer das sei. Jetzt steht Walz im Rampenlicht und muss das schlagartig ändern. Bei seinem ersten Auftritt auf der großen Bühne gab er daher etwas mehr über sich preis. Er sei ein Politiker, der gelernt habe, Kompromisse einzugehen, ohne dabei seine eigenen Werte aufs Spiel zu setzen. Seine goldene Regel im Leben sei außerdem ganz einfach: „Kümmere dich um deinen eigenen Scheiß.“

Mit dieser Aussage spricht Walz auch ein wichtiges Wahlkampfthema an: die persönliche Freiheit der US-Amerikaner. Deren Entscheidungsrechte, ganz besonders die der Frauen, sind spätestens seit dem Ende des Rechts auf Abtreibung eingeschränkt. In diesem Jahr stellte dann das oberste Gericht in Alabama auch noch die Zukunft von künstlicher Befruchtung infrage. Die konservative Rechtsauslegung vieler Richter könnte damit nicht nur den Schwangerschaftsabbruch unter Strafe stellen, sondern auch den Versuch, einen unbefriedigten Schwangerschaftswunsch zu erfüllen. Walz erklärte, dass seine beiden Kinder das Resultat von künstlicher Befruchtung seien. „Als unsere Tochter geboren wurde, nannten wir sie Hope“, sagte er, zu Deutsch: Hoffnung. Das Abtreibungsrecht und der Zugang zu Reproduktionsmedizin sind besonders für die Demokraten in diesem Wahljahr wichtige Themen.

„Er ist die Art von Person, die die Menschen inspiriert, große Träume zu haben“

Kamala Harris über Tim Walz

Harris und ihr Wahlkampfteam erklärten, dass sie seit der Ernennung von Walz zum Vizekandidaten politische Spenden von über 20 Millionen US-Dollar erhalten hätten. Zudem haben verschiedene Interessengruppen und demokratische Politiker aus allen Ecken der Partei die Nominierung von Walz begrüßt. Nancy Pelosi, die frühere Sprecherin des Repräsentantenhauses, betitelte Walz als „Demokraten aus dem Herzen Amerikas“. Joe Manchin, früher konservativer Demokrat und heute unabhängiger Senator aus West Virginia, hofft, dass Walz „Normalität in das chaotischste politische Umfeld zurückbringen“ könne, „das die meisten von uns je erlebt haben“. Das passt zu dem Wort, das Walz vor wenigen Wochen erst zu ein bisschen nationaler Bekanntheit gebracht hat: „Weird“ nannte er in einem Interview das republikanische Kandidatenduo Donald Trump und J. D. Vance. „Weird“, das ist so etwas wie schräg, seltsam, sonderbar, bizarr – und das trifft etwa Trumps eigentümliche Elogen auf Hannibal Lecter, den fiktiven Kannibalen aus dem Thriller „Das Schweigen der Lämmer“, schon ziemlich gut.

Die Reaktion auf die Nominierung von Walz auf republikanischer Seite: Das Wahlkampfteam von Harris’Rivalen, Ex-Präsident Donald Trump, bezeichnete Walz als einen „gefährlichen liberalen Extremisten“, der Minnesota nach dem progressiven Vorbild Kaliforniens umgestalten wolle. Sie verwiesen auf seine Unterstützung für Maßnahmen zur Senkung der CO2-Emissionen und zur Ausweitung des Wahlrechts für verurteilte Schwerverbrecher. „Genau wie Kamala Harris ist Tim Walz ein gefährlich liberaler Extremist, und der Harris-Walz-Kalifornien-Traum ist der Albtraum eines jeden Amerikaners“, sagte Trumps Wahlkampfsprecherin Karoline Leavitt.

Die Kundgebung in Philadelphia war der Auftakt zu einer fünftägigen Wahlkampftour für Harris und Walz. In den kommenden Tagen werden sie weitere für die Wahl wichtige Swing States besuchen. Am Mittwoch folgen Veranstaltungen in Michigan und Wisconsin.