Die Wahrheit: Im Königreich des kleinen Glücks
Die abgeschlossene Fabel zum Pegelstand der seligen Freude weit entfernt vom derzeit düsteren Hier und Jetzt. Mit einem Paar, das sich zum Glück fand.
Höret zu! Ich will euch von einem jungen Wandersmann erzählen, der einen Ort entdeckte, dahin würde mancher auswandern, wüsste er, wo selbiger läge. Dieser schöne Ort ist das Königreich des kleinen Glücks. Aber den Weg dorthin findet kein Abenteurer und kein Wissenschaftler. Doch unser Wanderer hat ihn gefunden.
Eines schönen Tages gelangte er nach einem langen Marsch an einen idealen Platz, um zu rasten: Im Schatten einer Eiche stand eine durch Vermoderung angenehm weich gewordene Bank, auf der ihm eine kleine Meise freundlich zwitschernd Platz machte. Zu seiner Rast genoss unser Wandersmann einen tiefen Schluck kalten Wassers und war in diesem Moment voll von kleinem Glück.
Und weil er so voll von kleinem Glück war, bemerkte er gar nicht, dass der Weg, den er sich doch ganz genau eingeprägt hatte, verändert war. Wo es nach links gehen sollte, ging es nach rechts, und wo eine Schweinesuhle hätte sein sollen, schubberten sich genüsslich junge Rehe an den Bäumen. Erst als er eine hohe Mauer mit zwei schweren Toren vor sich sah, wusste er, dass er sich verlaufen hatte. Da die Tore aber einladend aussahen und wie frisch geölt aufschwangen, ging er frohen Mutes hindurch.
Er wanderte den Waldweg, der sich hinter der Mauer weiterschlängelte, unbeirrt entlang, und just als er an seinem Glück zu zweifeln begann, sah er am Wegesrand eine Tafel, auf der stand: „Herzlich willkommen im Königreich des kleinen Glücks. Hier passt die Milch immer gerade noch so in die Kühlschranktür, die letzte Bahn erwischen Sie mit einem beherzten Sprung ganz sicher und mindestens einmal am Tag sehen Sie ein altes Ehepaar auf einer Parkbank verliebt Händchen halten.“
Schmucke Stadt
Diese Vorstellung fand der Wanderer ganz wunderbar und so folgte er dem Weg weiter bis zu einer kleinen, schmucken Stadt. Erschöpft von dem langen Marsch nahm der Wanderer sich ein Zimmer in einem Gasthof und ging nicht viel später zu Bett.
Der nächste Tag war ein Sonntag, und alle Bewohner der Stadt waren auf dem Flohmarkt, schließlich fand im Königreich des kleinen Glücks dort jeder immer genau die Teekanne oder das Buch, das er schon lange gesucht hatte. Der Wanderer aber hatte wenig Platz in den Taschen und nutzte den freien Tag zur Erkundung der Stadt.
Schon als er aus der Tür des Gasthofs trat, lächelte ihn ein Baby aus einem Kinderwagen heraus strahlend an, und kurz darauf ließ sich ein schwanzwedelnder Hund begeistert von ihm kraulen. Als er sich ein Eis kaufen wollte, fand er in seiner am Morgen frisch ausgepackten Hose zufällig gerade genug Geld, um den Eisverkäufer zu bezahlen.
Nachdem er lange dem Lichtspiel in den Blättern einer alten Ulme zugeschaut hatte, trieb es ihn zurück zum Gasthof. In Erinnerungen an glücklichste Kindheitstage schwelgend, die ein feiner Duft in ihm wachgerufen hatte, kam er dort an. Zufrieden ging er ins Bett, und als er am folgenden Tag von den ersten Sonnenstrahlen sanft geweckt wurde, roch er bereits den frisch gebrühten Kaffee, den die Wirtin ihm ans Bett bringen würde. So gestärkt beschloss er zu erkunden, welches Glück die Stadt noch für ihn bereithielt.
Junge Frau
In der schmalen Seitenstraße, in der der Gasthof lag, war zu dieser Tageszeit nicht viel los. Nur eine junge Frau kam ihm entgegen, die jedoch alles andere als glücklich wirkte.
„Du bist neu hier, oder?“, sprach sie ihn an. Ohne auf Antwort zu warten fuhr sie fort: „Ich haue von hier ab und nehme dich mit.“ – „Aber warum?“, entgegnete der Wanderer verwundert, „hier liegt das Glück doch ganz offensichtlich auf der Straße.“
„Ach, ja?“ antwortete die junge Frau. „Dann komm mal mit.“ Und als sie aus der ruhigen Seitenstraße auf den belebten Marktplatz traten, wurden beide von einer Kakofonie unterschiedlichster Lieder fast erschlagen. „Alle hören hier immer zufällig einen alten Lieblingssong!“, rief die Frau gegen den Lärm an, bevor sie den Wanderer weiterzog.
„Na gut“, wandte der Wanderer ein, als der Krach hinter ihnen lag. „Aber immerhin ist für Essen gesorgt“, fuhr er fort und zog einen Geldschein wie beiläufig aus der Hose. „Guck, ich finde immer Geld in meiner Tasche.“
„Du Dummkopf!“, schalt ihn da die junge Frau. „Glaubst du, das geht nur dir so? Alle finden immer Geld in ihren Taschen, deswegen läuft die Inflation dem König regelrecht davon!“
Schnell zog sie ihn weiter in Richtung der großen Tore, durch die er vor nicht einmal zwei Tagen noch ins Königreich des kleinen Glücks gelangt war.
Frischer Schnee
„Aber warum hast du es denn so eilig?“, fragte der Wanderer zwischen zwei Atemzügen die junge Frau. Da schalt sie ihn erneut: „Riechst du es nicht? Es riecht hier immer wie der erste Frühlingstag nach einem langen Winter, obwohl gar nicht Frühling ist. Schau!“ Sie zeigte auf ihre Füße, unter denen im Wechsel trockene Herbstblätter wunderbar knusperten oder frischer Schnee klangvoll knarzte. „Das Wetter spielt jetzt schon vollkommen verrückt! Wer weiß, was noch alles passiert!“
Da war der Wanderer überzeugt und rannte, dass er die junge Frau fast überholte. Endlich erreichten sie den Ausgang des Königreichs des kleinen Glücks gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie sich eine dichte Schneedecke über die Stadt legte, vermutlich damit alle sich bei einem guten Buch in kuschelige Decken mummeln konnten.
Gemeinsam traten sie den Rückweg in die ihnen bekannte Welt an, und auf dem Weg wurden sie erst gute Freunde und dann ein Paar. Sie sprachen noch oft über ihre Erlebnisse im Königreich des kleinen Glücks und ihre Flucht, die wichtigste Sache hatten sie dabei aber gar nicht bemerkt: Nämlich, dass ein Schelm das Wort „kleinen“ in „Königreich des kleinen Glücks“ nur auf ein Holzplättchen geschrieben und über das eigentliche Wort auf der Tafel genagelt hatte.
Viele Jahre gingen ins Land, bevor das Schild schließlich abfiel und den wahren Namen des Ortes enthüllte, an dem sich die beiden kennengelernt hatten: „Das „Königreich des großen Glücks“.
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